Sentimentale Erziehung eines Spinnenmenschen
„Spider-Man 3“ ist so gut gemeint, dass er nicht mehr richtig gut ist
Ehrlich, Spidey war immer einer meiner Lieblings-Superhelden. Ich mochte seine sarkastischen Sprüche, mitten drin in einem Mordsgekloppe über den Straßenschluchten von New York, seine wahrhaft beschwingte Fortbewegungsart, gegen die Supermans pathetisches Fliegen schon altmodisch wirkt, und natürlich mochte ich auch Peter Parker, sein wahres Ich: ein Student mit emotionalen und finanziellen Sorgen, der Mühe hat, sich in den Vorlesungen wach zu halten und als Fotograf beim Daily Bugle von dessen cholerischem Chef J. Jonah Jameson regelmäßig über den Tisch gezogen wird. Was ich nicht mochte, waren beinahe alle Versuche, die Comics von Stan Lee und Steve Ditko in irgendein anderes Medium zu übersetzen. (In den frühen Siebzigern gab es sie in einer deutschen Ausgabe, schwarzweiß und absurd übersetzt: aus „´nuff said“ wurde da „Das sagte Nuff“. Wer zum Teufel sollte Nuff sein? Jedenfalls hat Stan Lee in Spiderman 3 seinen Kurzauftritt und gibt welchen Marvel-Spruch zum Besten? Natürlich: „nuff said“.)
Eigentlich waren schon alle Versuche, Ditkos reduzierte Dynamik von einem anderen Zeichner fortsetzen zu lassen, daneben. Ganz zu schweigen von Spiderman-Cartoons, Spiderman-Computerspielen oder den Spiderman-Fernsehfilmen, die es bei uns sogar in die Kinos schafften: ein Superheld wie alle anderen auch, im Kampf gegen irgendwelche antiamerikanischen Verschwörungen und mit einem schlecht sitzenden Kostüm. Und Spiderwoman? Gehen Sie mir weg mit Spiderwoman, dieser Provinzschullehrerin im Spinnendress!
Respektvoll ging dann erst Sam Raimi bei seinen Filmen vor, nicht zuletzt, weil er sich der Mitarbeit von Stan Lee versicherte, Texter, Redakteur, Magier hinter den Marvel-Comics. Mit Tobey Maguire fand er auch den idealen Darsteller, einen Jungen, der noch nicht weiß, ob er unverschämt oder ängstlich in die Welt blicken soll, und dem man ansieht, dass hinter dem jugendlichen Grinsen eine Menge vor sich gehen kann. Die ersten beiden Spiderman-Filme von Sam Raimi waren nicht nur gelungene Verbindungen von Coming-of-Age-Komödie, Computereffekten und Actionspielen, sie waren auch, mitten in den bleiernen und blutigen Jahren der Bush-Administration, kleine Lehrstücke über Verantwortung und Versöhnung. Das war der Superhelden-Comicfilm, den der liberale Mittelstand sich und seinen Kindern ohne Reue gönnen durfte. Und unsereiner durfte Spidey weiter lieben.
Mittlerweile freilich hat sich das Konzept ein wenig vernutzt: Held mit alltäglichen Problemen, Zusehen wie er älter und reifer wird (wie bei Harry Potter), Zitat und Selbstreferenz, politisch-moralischer Meta-Text, blablabla. Im dritten Teil der Spiderman-Saga kommt das alles so schwer und pflichtgemäß daher, dass man sich nach einer schön trashigen sinnfreien Kostümkasperiade sehnt. Spidey muss in Teil drei seine éducation sentimentale mit Hilfe allerdings in der Tat beeindruckender Marvel-Superschurken vollenden. Und das kommt so:
Peter Parker und Mary Jane Watson durchleben eine Phase der Entfremdung, ausgelöst durch Mary Janes Misserfolge auf der Bühne und Peters Unfähigkeit, in seiner neuen Eitelkeit als gefeierter Held auf ihren Kummer zu reagieren. Zur gleichen Zeit sinnt Harry Osborn, einst Peters bester Freund, auf Rache, da er ihn für den Tod seines Vaters verantwortlich macht. Auch ein weiterer Schurke aus dem Marvel-Universum, der Sandman, hat familiäre Probleme: Der entflohene Häftling darf seine kranke kleine Tochter nicht sehen. Außerdem ist er direkt in den Tod von Peters Onkel Ben verwickelt, der hier das klassische Trauma in der Seele des Superhelden auslöste. Der gefährlichste Gegner für Spiderman aber wird eine glibbrige schwarze Masse, die eine fatale Eigenschaft hat: Sie verwandelt die Menschen, die mit ihr in Berührung kommen, in bösartige, von der eigenen Macht berauschte Schatten ihrer selbst. Aus eurem freundlichen Nachbarn Spiderman wird also ein dunkler Held, der auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckt, und der im Privatleben (komplett mit Hitler-Scheitel) ein unangenehmer Angeber, rachsüchtiger Karrierist und Modegeck wird. Der böse Doppelgänger also, noch so ein erzromantisches Motiv. Wie sich dann alles auflöst, wie der Held seine Lektionen lernt, wie Peter und Mary Jane wieder zusammenkommen und wie das Böse dann doch nicht verschwindet, ohne sein Opfer zu verlangen, wie Kirchenglocken zur Waffe des Guten werden, und wie Tante May über Gewalt und Rache denkt, das alles erfahren wir in der zweiten Hälfte des Films, der freilich so mechanisch und andächtig seine Motive abarbeitet, dass einen gelegentlich das Gefühl beschleicht, man habe den Film schon einmal gesehen.
Denn da zeigt sich doch das leidige Trilogie-Problem: Motive, Charaktere und Ikonografie sind nun so weit entwickelt, dass paradoxerweise umso weniger noch Überraschung möglich ist, als man sich der Steigerungslogik unterwirft. Mehr Schurken, mehr Effekte, mehr Plot-Twists. Das Spiel mit den Konstanten und Variablen gerät an seine Grenzen, wo das Gesetz der Serie den „großen Roman“ aushöhlt. Und nun erweist sich gerade der Vorzug der ersten Spiderman-Filme, die Verknüpfung äußerer Handlung mit inneren Konflikten, das ganze Konzept des hero with problems und der éducation sentimentale als Bumerang. Alle Figuren und alle Handlungselemente tragen so schwer an ihrer moralischen Bedeutung, an ihren Positionen in den miteinander verknüpften magischen Familienromanen von Bindung und Ablösung, dass sie zu beidem nicht mehr recht fähig sind: zur in der Serie durchaus angelegten Rückbindungen an die reale Welt (von Mietschulden, klemmenden Türen und Büro-Mobbing) oder zum freien Spiel des Phantastischen, in dem die Monster nicht melodramatische Abbildungen moralischer Konflikte, sondern Wesen direkt aus der aufregenden Welt des Unterbewusstseins sind.
Dabei geht es ja unter anderem auch um ästhetische Erfahrungen, um Wahrnehmungsspiele, um beinahe autonome Kunstwerke aus Sand, aus schwarzen Fäden, aus „gotischen“ Architekturen und nicht zuletzt aus Bewegungen. An selbstverschossenen Spinnenfäden über New York zu schwingen muss ein ziemlich reines Glück sein. Aber im dritten Teil von Spiderman kommen Erziehungsroman und Bewegungsspiel, digitales Formen und moralisches Räsonieren, Zitierlust und Selbstreferenz, Bigotterie und Kritik, Ironie und Sentimentalität, Mittel und Absichten des Bildererzählens nicht mehr zur Harmonie und schon gar nicht zur Selbstverständlichkeit. Auch Tobey Maguire, der den neugierig offenen Jungen in der suggestiven Welt so unnachahmlich gegeben hat, und Kirsten Dunst, der erotische Traum fürs Einfamilienhaus, geraten an die Grenzen der Rollen-Kompatibilität. Vielleicht kann man „Unschuld“ wirklich nicht dauerhaft spielen, und deshalb schon gar nicht ihre Gefährdung.
Spiderman 3, der bei aller Action und diesmal sogar bei allem Zorn, wie seine Vorgänger im Innersten von der Sehnsucht nach Versöhnung, Glück und Vergebung handelt, eigentlich von nichts anderem als der Wiederkehr der bürgerlichen Gesellschaft in den Zeiten der gewalttätigen Unübersichtlichkeit, ist ein durchaus positives Modell für den „Helden mit Trauma“. Spidey lernt retten, nicht strafen. Er ist die schwingende Hoffnung pragmatischer Mitmenschlichkeit. Er wird nie vollkommen sein, und immer sich strebend bemühen. Aber er ist auch in Gefahr, ein kolossaler Langweiler zu werden.
Georg Seeßlen
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