Die Sehnsucht des Drachens nach dem Ritter
Drei neue Filme aus Italien:
II Portaborse, Pensavo fosse amore invece era un calesse, Le Comiche
Wie funktioniert Demokratie? Gewiss nicht so, wie sie zu funktionieren vorgibt. Vielleicht ist sie nur die Vermischung von Elementen der Diktatur und solchen der Anarchie. Jedenfalls scheint die Demokratie in Italien so zu funktionieren. Sie wäre nicht auszuhalten, geschähe nicht gelegentlich ein Wunder. Und geschieht es nicht, so muss es eben vollbracht werden — oder erfunden.
Und wie funktioniert die Liebe? Gewiss nicht so, wie sie zu funktionieren vorgibt. Vielleicht ist sie nur die Vermischung von Zuständen der Nähe und der Entfernung. Jedenfalls scheint die Liebe in Italien so zu funktionieren. Sie wäre nicht auszuhalten, geschähe nicht gelegentlich ein Wunder. Und geschieht es nicht…
Ein neuer Schritt der Modernisierung erzeugt je mehr Unbehagen, je unausweichlicher er wird: Europa, eine Super-Gesellschaft, die so viel an Kultur zu zerstören droht, wie sie an Wirtschaftskraft gewinnen will. In Italien, wo das Anarchische und das Bürokratische besonders heftig aufeinanderprallen, zeigt der Prozess der Modernisierung auch besonders deutlich seine Verluste. Man kann keinen Espresso trinken, ohne zu hören, daß es so nun wirklich nicht weitergehe mit Italien. Und während sie noch die Entschlossenheit zur Europäisierung der italienischen Gesellschaft beschwören, denken der wahre Italiener und die wahre Italienerin bereits darüber nach, wie sie sich gegen sie zur Wehr setzen können.
Diese widersprüchliche Situation ist ein idealer Nährboden für kleine, am Alltag orientierte Filme über die Liebe und die Demokratie, über die Notwendigkeit, immer moderner zu werden, und die Hoffnung, nicht alle Identität zu verlieren. Im italienischen Kino stehen sich zur Zeit immer wieder zwei Typen von Menschen gegenüber und reiben sich aneinander: der tragische Modernist, der sich jeder Situation anzupassen versteht, und der skurrile Individualist, der sich stets neue Nischen für ein glückliches Leben erfindet. Weil der Widerspruch zwischen diesen beiden Überlebensstrategien unauflösbar ist, wird er fürchterlich komisch. Und weil die italienischen Zuschauer darin so sehr ihre eigenen Widersprüche in dieser Vor-Europa- Zeit erkennen, haben sie dem italienischen Kino zu einem kleinen Boom inmitten der permanenten Krise verholfen.
Es waren einheimische Filme, die den italienischen Kinos .in diesem Winter die meisten Zuschauer brachten. Der „Terminator“ zum Beispiel unterlag Roberto Benignis „Johnny Stecchino“, Massimo Troisi bezwang mit „Pensavo fosse amore invece era un calesse“ Ridley Scotts „Thelma & Louise“, und gegen Renato Pozzetto und Paolo Villagio im zweiten Teil von „Le Comiche“ hatte es Leslie Nielsen im zweieinhalbten Teil von „The Naked Gun“ schwer. Fast alle diese Filme könnte man zum Genre der Komödie rechnen; aber das einzige, was sie mit den Niederungen dessen verbindet, was in Deutschland als „Filmkomödie“ gehandelt wird, ist der Umstand, daß auch ihre Autoren und Darsteller in anderen Medien als dem Film reüssiert haben. Doch das Amphibische ihrer Ästhetik führt nicht zu jener lärmenden Volkstümlichkeit, die man diesseits der Alpen gewohnt ist, sondern eher zu einem romantischen Minimalismus, der ganz ohne Anmaßung sowohl Traditionen des Neorealismus und der Commedia all’italiana der sechziger Jahre aufnimmt als auch Einflüsse von Literatur, Kabarett und Theater.
Im Zentrum dieser romantischen Kino-Renaissance stehen komödiantisch geprägte Schauspieler- Autoren-Regisseure, deren erste Kunst eine wahrhaft unverschämte Leinwandpräsenz ist. Wenn ein deutscher Schauspieler unverschämt wirken will, dann muss er etwas Unverschämtes tun. Roberto Benigni aber schaut nur mit kindisch neugierigen Augen und leicht hängender Unterlippe in die Kamera: Es ist fast nicht auszuhalten. Ein deutscher Schauspieler bedarf, um das Leiden in und an seinem Land zu zeigen, der großen Geste. Massimo „Troisi aber nuschelt nur auch für Norditaliener Dreiviertelverständliches von seiner Großmutter und bewegt dabei ein wenig den Handrücken: Damit hat er schon ein Dutzend Geschichten erzählt. Und welch furchtbare Karikaturen müssen deutsche Zuschauer über sich ergehen lassen, wenn auf der Leinwand politische Macht dargestellt werden soll! Nanni Moretti macht das in „II Portaborse“ („Der Taschenträger“) allein mit einem Blick auf seine Umgebung, mit einer Bewegung seiner Mundwinkel, während er erzählt, dass er noch nie ein Buch zu Ende, wohl aber stets alle Inhaltsangaben und Kritiken gelesen habe.
Benigni, Troisi und Moretti, so unterschiedlich sie sein mögen, sprechen das italienische Publikum als Ganzes an, das nicht so dumm ist, sich einen Widerspruch zwischen dem Intellektuellen und dem Populären einreden zu lassen. Diese neue italienische Filmkomödie, von „totalen Filmemachern“ gemacht, die nicht nur ihre Gestalten, sondern auch ihr Publikum und dessen Alltagserfahrungen ernst nehmen, scheint einen Weg aus der Entfremdung, der zynischen Beliebigkeit und der ästhetischen Monumentalität des europäischen Films zu weisen.
Anpassung oder Widerstand, Hinausgehen oder Drinnenbleiben: Davon handeln alle diese Filme. Und davon, wie sich jeweils beides begrenzt und ermöglicht. Darin steckt auch das Hegeische „tragische Bewustsein“ im Konflikt zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Wer ganz und gar das Private verlässt, um sich im Öffentlichen durchzusetzen und anzupassen, der verliert sich selbst. Wer aber nur drinnen bleiben will, der verliert die Welt.
In „La Stazione“, dem Regiedebüt des Theaterschauspielers Sergio Rubini, spielt der Regisseur einen typischen Vertreter des Drinnen. Domenico ist Vorsteher in einem kleinen Bahnhof in Süditalien. Er hat sich eingerichtet in seiner kleinen Welt, indem er die Ereignislosigkeit seiner Dienstnächte mit kleinen Beschäftigungen überbrückt. Er ist besessen von der Messbarkeit seiner Umwelt: Wie lange braucht ein Ast, um im Ofen zu verbrennen? Wie häufig fällt die Platte seines Schreibtisches herunter? Zudem vertreibt er sich die Zeit mit dem angestrengten Studium der deutschen Sprache (das Abstrakteste und Ordentlichste, das er sich vorstellen kann). Aber in einer Regennacht kommt die schöne Flavia in seine Station, von der heute kein Zug mehr in die Welt fährt, zu der sie gehören muss. Sie ist geflohen, hat die reiche Villa, die Party, den Verlobten Danilo, der sie in krumme Geschäfte ziehen will, verlassen und will nur fort. So verbringen Domenico und Flavia eine Zeit zwischen scheuer Distanz und vorsichtiger Annäherung, bis Danilo auftaucht. Die Situation wird ernst, und der Film zeigt es. Domenico gelingt es, Danilo zu überlisten. Er bleibt mit Flavia allein. Bis Danilo zum letzten und furchtbarsten Angriff ansetzt. Auch den übersteht Domenico, der körperlich seinem massigen Widerpart weit unterlegen ist. Aber weil seine Liebe keine Zukunft haben kann, muß er selbst Flayia dazu überreden, am Morgen den Zug zu besteigen. Im Regen verwischen sich seine Tränen, als er mit seiner Kelle das Signal zur Abfahrt gibt.
Maurizio Nichetti in „Volere volare“ („Von Luft und Liebe“) ist auch so einer, der sich in eine Innenwelt zurückgezogen hat und mit einer kleinen Besessenheit glücklich ist. Er macht Geräusche zu Trickfilmen, und deshalb zieht er gelegentlich durch die Stadt, um alles zu erhaschen, was besondere Töne erzeugt: Maurizio nimmt die wirkliche Welt eigentlich nur als Geräuschlieferanten für seine Animationswelten wahr. Das Studio teilt er mit seinem Bruder, der sich auf die Synchronisation von Pornofilmen spezialisiert hat. Die große Liebe erscheint Maurizio in Gestalt der Prostituierten Martina (Angela Finocchiaro), die sich auf Kundschaft mit solch hanebüchenen Defekten verlegt hat, daß sie in ihrem Beruf wahrhaft unberührt bleibt. Was zunächst eine geschäftliche Zusammenarbeit werden sollte, entwickelt sich zu einer Liebesgeschichte der beiden Unberührten. Aber bevor sich die beiden ganz in der Wirklichkeit verlieren können, kommt es zu einer folgenschweren Verwandlung: Maurizio, infiziert von seinen Trickfilmgeistern, verwandelt sich in eine Cartoon-Version seiner selbst. Martina scheint glücklich, den idealen Partner gefunden zu haben: ein Zeichentrickmännchen.
Angela Finocchiaro, die wunderbare Darstellerin einer Alltagsitalienerin, die sich zwischen Modernisierung und Beharrung in ihrer Umwelt einen Weg suchen muss, spielt mit einer ähnlichen Mischung aus komischer Resignation und Lebenslust in „Der Taschenträger“ die Freundin des Gymnasiallehrers Luciano Sandulli (Silvio Orlando), der sich, um die Villa seiner Vorväter vor dem endgültigen Verfall zu retten, nebenbei als Ghostwriter für einen berühmten Schriftsteller betätigt. In dieser Funktion wird er von Cesare Botero (Nanni Moretti) eingestellt, dem jüngsten Minister Italiens; er schreibt für ihn Reden und wird zur helfenden Stimme bei Pressekonferenzen, ein Rädchen in der Maschine der Macht, in die er freilich auch immer mehr Einsicht gewinnt. Luciano verliebt sich in die Assistentin Boteros, Juliette, aber die ist Eigentum des Ministers, wie alle Menschen, deren er sich bedient. Luciano wird mit Annehmlichkeiten überhäuft, die Freundin wird nach Rom versetzt, die Villa auf Staatskosten sanier^ das Wohlwollen mit einem luxuriösen roten BMW gekrönt. Aber dann hat Luciano doch genug von den Anmaßungen und Manipulationen, den Fernsehlügen und Eitelkeiten. Der kleine Mann rebelliert gegen den Machthaber. Freilich hat weder der Versuch, Boteros Wahlmanipulationen nachzuweisen, Erfolg noch die briefliche Abrechnung mit ihm den gewünschten Effekt: Cesare wendet die auf ihn gemünzten Schmähworte in einer Fernsehrede einfach gegen eigene, imaginäre Gegner. Aber es wirkt befreiend, wenn Luciano am Ende seinen teuren BMW zertrümmert.
Seine stärksten Momente hat „II Portaborse“ da, wo Morettis Botero sich selber zur Sprache bringt. Er ist weder das Scheusal wie Danilo in „La Stazione“, noch der komische Opportunist wie Maurizios Bruder in „Volere volare“. Vielmehr kommt er uns bedenklich nahe in seiner dem System angepassten Selbsterfindung. Wenn er die tollsten, rührendsten und verführerischsten Geschichten über sich erzählt, dann wird nachher eine furchtbare Leere deutlich, die Sehnsucht des Drachens nach dem Ritter, der ihn tötet und erlöst. Aber es ist schon Wunder genug, daß der Ritter das Schwert gezogen hat und sich nicht im wärmenden Atem des Untiers Macht ganz der Mechanik der Korruption hingegeben hat.
In diesen Geschichten vom Aufstand der buchstäblich kleinen Männer gegen die neuen Monster der Modernisierung und ihre alten Machtspiele ist ein historischer Moment getroffen. In den Mächtigen beweist sich die grenzenlose Anpassungsfähigkeit des Verbrechens in der Demokratie und in der Liebe, in ihren Widersachern die ewige Wiederkehr der Unschuld. In „Der Taschenträger“ indes wird die gegenseitige Infektion sichtbar, die Spirale der Korruption komplizierter. Der zur Macht gelangte Sancho Pansa und der immer noch träumende Don Quijote tauschen beständig Rollen und Identität. Was immer geschieht: Sie gehören zusammen. Wie Italien und Europa, zum Beispiel.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in DIE ZEIT, 06.03.1992 NR. 11
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