Ab durch die Mitte
István Szabó scheitert mit „Ein Hauch von Sonnenschein“ an den Produktionsbedingungen des europäischen Großfilms
Wenn meine Filme“, so hat der ungarische Regisseur István Szabó vor ungefähr 20 Jahren gesagt, „dem Zuschauer nicht helfen, sein Leben, seine persönlichen Probleme, seine Konflikte, seine Geschichte, sich selbst im Rahmen größerer gesellschaftlicher, vergangener oder zeitgeschichtlicher Zusammenhänge besser zu erkennen und zu verstehen, was sollen sie dann?“ Das ist in der Tat ein schönes, ein nützliches und ein zauberhaftes Versprechen für das Kino: In der story die history zu erforschen (und umgekehrt), und im cineastischen Bewegungsbild die verlorene Zeit zu gewinnen und nutzbar zu machen. Szabó hat Filme gemacht, die dieses Versprechen einlösten, von seinen frühen Werken wie Ein Liebesfilm (1970) oder Feuerwehrgasse 25 (1973) bis hin zu seiner Trilogie mit Klaus- Maria Brandauer in der Rolle eines (oberflächlich betrachtet) manischen Karrieristen in dunklen Zeiten, aus der die Klaus-Mann-Verfilmung Mephisto (1981) auch ein großer Erfolg beim Publikum wurde. Zwischenrein freilich stürzte Szabó auch immer mal wieder ab, wenn er zu sehr im Beziehungslärm wütete wie in Der grüne Vogel (1979) oder sich in hübschen, aber nicht sehr tief greifenden Sarkasmus rettete wie in Zauber der Venus (1991).
Szabós neues Werk Ein Hauch von Sonnenschein ist sozusagen eine Trilogie in einem Film, wobei die einzelnen Teile voller Bezüge und Reflexionen zu Geschichten und Charakteren aus früheren Szabó-Filmen stecken. Das hätte so etwas wie ein Anthologiestück seiner Arbeit werden können. Alle seine Motive tauchen wieder auf: der verzweifelte Kampf um Anerkennung und Aufstieg eines Menschen, der dann doch im Namen der Macht geopfert wird; die Wechsel der politischen Systeme, die wenig an der finsteren Struktur der Macht ändern; die heftige und traumatisierte Liebesgeschichte, die sich an den Revolten der Zeit erst zu entzünden scheint und dann von der Politik aufgefressen wird; der schwierige Kampf darum, erwachsen zu werden, sich von den Legenden und Illusionen zu befreien; das Wandern von mehr oder minder magischen Objekten durch die Handlung; Traumbilder, die den Weg der Helden begleiten. Wenn man alle Filme von István Szabó zusammenmischen würde, es sind mittlerweile um die 20, und alle Höhen und Tiefen herausschnitte, dann käme wohl Ein Hauch von Sonnenschein heraus. Die Produktion leidet überdies am Versuch, Szabós Handschrift gleich mit zwei Marktanforderungen zu versöhnen, mit dem europäischen Großfilm (visuelle Opulenz plus „beeindruckende Schauspielerleistungen“ plus historische Reminiszenz) und dem coproduzierten Fernsehmehrteiler (lineare, überdeutliche Erzählweise plus didaktisches Anliegen plus kontrollierte Ausstattungsorgie). Das musste, gemessen an Szabós Fähigkeiten und seinem eigenen Anspruch, gründlich schief gehen.
Es ist eine Fleißarbeit geworden, deren Bilder beständig einen ganz anderen Film versprechen, eben keinen, in dem die Episoden nach dem Schema der Fernsehserie abgehakt werden, keinen, der zugleich umständlich und atemlos erzählt, keinen, der ständig damit beschäftig ist, alles was er zeigt, noch einmal zu betonen und mit einer „Habt ihr das jetzt auch wirklich verstanden?“-Szene abzuschließen, keinen, der uns von den Figuren alles vorenthält, was sie nicht, ganz im Sinne der Soap-Opera, selber bereden, keinen, bei dem man immer schon eine Viertelstunde im Voraus ziemlich genau weiß, was kommen wird. Sondern einen Istvan-Szabó-Film.
Eine Trilogie in einem Film also, mit einer Vorgeschichte und einem Ausblick. Alles beginnt mit einer Explosion: Aaron Sonnenschein ist beim Brauen seines Kräutertrunks der Kessel in die Luft geflogen. Nach seinem Tod verlässt die Familie das Dorf, das Rezept für den heilsamen Sonnenschein-Likör bietet die Grundlage ihres Wohlstands. Und für eine soziale Ambition, von der Aarons Sohn Emmanuel noch glaubt, sie sei für Juden gefährlich. Die erste Episode spielt in der Kaiserzeit und stellt Emmanuels Söhne Ignatz und Gustave einander gegenüber. Während Ignatz sich als Richter vollständig mit der „liberalen“ k. u. k.-Monarchie identifiziert und buchstäblich mit ihr zugrunde geht, erlebt Gustave, Arzt und Sozialist, Widerstand, Gefängnis und Befreiung. Die zweite Episode spielt in der Zeit des Horty-Regimes und des Faschismus. Ignatz‘ Sohn Adam, der durch die antisemitischen Pöbeleien seiner Mitschüler früh gedemütigt wurde, profiliert sich als Fechter; seine Kampfkunst bringt ihn in die Mannschaft des Offizierskorps und schließlich zur Olympiade nach Berlin. Dass er für kurze Zeit als Nationalheld gefeiert wird, bewahrt ihn nicht vor dem Schicksal von Verschleppung und Folter. Vor den Augen seines Sohnes Ivan wird er im Konzentrationslager zu Tode gepeinigt. Ivan ist der Held der dritten Episode. Nach seiner Befreiung macht er Karriere im Apparat der neuen Macht, die er freilich bald auch von der anderen Seite kennen lernt, einschließlich einer neuen Version des Antisemitismus. Er beteiligt sich am Widerstand und wird ins Gefängnis geworfen, aus dem er erst nach Stalins Tod zurückkehrt – in das Haus der Familie Sonnenschein, das immer wieder optischer Fixpunkt der Erzählung war, und das wohl nun nicht mehr zu retten ist.
In der letzten Szene befreit sich der Held von den Möbeln und Erinnerungsstücken. Statt des lange gesuchten Rezepts für den „Schluck Sonnenschein“ behält er nur ein paar Briefe, die erscheinen, als wären sie direkt an ihn gerichtet, ein wenig auch an uns; Aufforderungen zu einer inneren Befreiung, wie etwa in den letzten Worten der Mutter: „Es ist nicht die Welt, die sich verändern muss. Es ist die Art, wie Du sie betrachtest.“ Von der Selbstbeschränkung des jüdischen, aber auch des bürgerlichen Lebens, die Emmanuel lebte und seinen Nachkommen als eine Art Fluch hinterließ, ging der schwere Weg bis zum Erwachsenwerden eines Mannes, der seine Wurzeln zugleich verliert und wiedergewinnt. Und wenn alles gut gegangen wäre, dann hätten wir nun nicht nur etwas über die Geschichte einer jüdischen Familie in Ungarn, die Dialektik von Anpassung und Widerstand und die Liebe in den Zeiten der Unterdrückung gelernt, sondern auch etwas über uns selbst, über die history in unserer story .
Es geht aber nicht gut. Die Geschichten der drei Generationen werden in Fluss und Balance gehalten, mit einem Ralph Fiennes in allen drei Hauptrollen, der vielleicht schon einen Hauch zu viel Image, zu viel Star-Qualität mitbringt, um neben den Konstanten auch den Unterschieden der drei Charaktere und Schicksale genauer auf die Spur zu gelangen. Die drei Teile geben sich keine Zeit, hinter die Offensichtlichkeiten der Fabel zu gelangen, und sie geben uns keine Zeit, eigenen Empfindungen nachzugehen. Nicht einmal die Magie der Gesichter, auf die sich Szabó sonst so versteht, öffnet uns noch einmal ein Fenster, geschweige denn, dass sich der Regisseur gestattete, zwischen mehreren Erzähl- und Traumebenen zu wechseln, wie er das in seinen frühen Filmen konnte. Von einer historischen Genauigkeit kann erst recht nicht die Rede sein. Zu sehr wird in der Fabel wie in den Dekorationen Budapest zu einer Metapher für „Mitten in Europa“, zu sehr fürchteten wohl die Produzenten, die Zuschauer mit Hinweisen auf den geschichtlichen Eigensinn Ungarns zu überfordern.
Szabó ist mit Ein Hauch von Sonnenschein vermutlich nicht nur an einem Konzept gescheitert, das seinen Fähigkeiten enge Grenzen setzt, sondern auch an den Bedingungen des europäischen Kinos und der Hegemonialmacht des Fernsehens. Als Dreiteiler auf dem Bildschirm, vielleicht um einige Episoden erweitert, werden wir diese Arbeit vermutlich über kurz oder lang zu sehen bekommen, und dann wird sie zum Besten gehören, was dieses Format hervorbringen kann. Als Kinofilm aber ist Szabós Arbeit Symptom für die Misere dieser Produktionsform im Dienste des europäischen Mittelgeschmacks. Die nämlich, so scheint es, ist in ihrer Nivellierungs- und Vereinfachungswut nicht so sehr von einer Liebe zum Publikum bestimmt als vielmehr von einer Angst vor ihm. Bekommen die Zuschauer alles, was sie wollen? Muten wir ihnen auch nicht zu viel zu? Auf dem Weg in die Mitte verliert dieses Kino seinen Ort. Dagegen ist sogar ein Künstler wie Szabó machtlos.
Autor: Georg Seeßlen
Text geschrieben 2000
Text: veröffentlicht in DIE ZEIT 05/2000
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