Der Zauberwald ist abgebrannt
Kann man einen Film über Skinheads machen? „Oi! Warning“ ist ein Angriff auf den Mythos des Mainstreams
Die allgemeine mediale Identifizierung des Skinhead ist längst so einfach wie abgeschlossen – einige wenige Modelle scheinen uns zu genügen: das Sozialarbeiter-Modell vom allein gelassenen und verführten Jugendlichen, das Alien-Modell von der Unbewohnbarkeit der Städte, das Gröl- und Sauf-Modell und das der NPD-Aufmärsche mit ihren Trommeln. Der Mainstream hat sich diese Bilder nach Art einer Induktionsschleife eingeschrieben, Bild und Wirklichkeit fangen an, sich miteinander zu verwechseln. Was freilich aus diesen Bildern ausgeschlossen ist, das ist die Geschichte, die Geschichte der „Bewegung“ und die des Individuums. So ist das Skinhead-Bild des medialen Mainstreams auch insofern propagandistisch, als es vor allem ein Bild der Angst ist, die es erzeugt. Und umgekehrt: Ein wenig Mut muß man schon haben, wenn man sich auf ein anderes Bild einlassen will.
Der Film beginnt mit zwei Einstellungen, die sich einem ziemlich tief in die Netzhaut brennen. Ein Messer, das ein Zeichen in Menschenhaut ritzt. Ein Mann und eine Frau im Wald, in seltsames, irreales Licht getaucht: der nackte, düstere, tätowierte Mann läßt seine Muskeln spielen. Die helle Frau ist hingerissen von diesem Posing. Es ist, als hätte sich da ein natürlicher Faschist seine Leni Riefenstahl gleich mit ins Bild geträumt. Ein unmögliches Bild, das eine ganze Anzahl von fix gespeicherten Vorstellungen hinwegfegt. Aber auch dieses Bild selber kann nicht bestehen: Der Mann nimmt von irgendwoher eine Handgranate und reißt mit den Zähnen den Zünder ab. Ein greller Blitz leert die Leinwand. Der ganze Film „Oi! Warning“ funktioniert zwischen diesen beiden Bildern, zwischen dem Schmerz und dem Glück einer barbarisch-körperlichen Männlichkeit. Und er erzählt von einer Suche danach, und davon, warum sie scheitern muss.
Der siebzehnjährige Janosch lebt und leidet am schönen Bodensee. Als er von der Schule fliegt, nimmt er das zum Anlaß, sich auf seinen Motorroller zu schwingen, schwäbelnde Mutter und spießige Freundin zu verlassen. Dominik und Benjamin Reding benutzen dabei eine Technik, die der frühe Martin Scorsese geliebt hat: Eine Off-Narration des Helden, die sich ständig selbst der Großsprecherei überführt und von den groben Schwarzweißbildern ebenso rigoros kommentiert wird wie von den undramatisch-trivialen Dialogen.
Janosch kommt nach Dortmund, wo er seinen ehemaligen Kumpel Koma wiedertrifft, Vorbild und Bruder schon damals. Koma arbeitet in einer Brauerei und wuchtet Bierkisten, mit seiner schwangeren Freundin Sandra wohnt er in einer kleinen Wohnung. Aber das ist nur das halbe Leben. Die andere Hälfte gehört dem Kickboxen, den Skinheads, Trinken, Ska und Gewalt. Vom Stolz auf die working class singt die Skin-Band – mit den Nazis hat man hier noch nichts zu schaffen, Männerbund und tribe scheinen sich noch selbst zu genügen. Aber da ist schon genügend, was nicht funktioniert. Koma wird von einer großen Unruhe, einem großen Zorn ohne Gegenstand getrieben. Er muß hassen, wenn er die Widersprüche seines Lebens aushalten soll.
Janosch läßt sich die Haare abrasieren, läßt sich tätowieren, läßt sich mitschleifen durch die Skin-Nächte. Und auch eine neue Freundin könnte er haben, das Kleinbürgermädchen Blanca, das nur raus aus dieser muffigen Wohnzimmer- und Fernsehwelt will – und doch auch mit dem Traum von gemeinsamer Wohung und Karriere gleich wieder hinein. Die Begegnung mit ihr gehört zu den Schüben von Desillusionierung, die Janosch seit seiner Ankunft erlebt. Dann lernt Janosch den Punk Zottel kennen und lieben, dessen Lebensstil offensichtlich radikaler und selbstverständlicher ist als der von Koma und seinen Freunden. Er hat, so scheint es, wirkliches Vergnügen am Bruch mit der bürgerlichen Welt.
Koma muß sich gleich doppelt ausgestoßen vorkommen. Er sieht sich, nachdem er Vater von Zwillingen geworden ist, nicht nur dem bedrückenden Alltäglichen ausgesetzt, sondern, schlimmer noch vielleicht, die Bewunderung in den Blicken der anderen, vor allem in dem von Janosch, schwinden. Janosch ist mit der Entscheidung zwischen den beiden überfordert. Und als die Gewalt sich in einem sinnlosen Kreis entladen hat und für niemanden Hoffnung geblieben ist, kann er nur noch hoffen, daß ihm das Leben noch einmal eine zweite Chance gibt. Wie im Kino.
Eine Lesart für diesen Film mag es sein, die Skin- und Punk-Szenen nur als „Beispiele“ für den stets desolateren Durchgang des Menschen, des Mannes vor allem, zu nehmen, durch die tribes und Zwischenkulturen zum bürgerlichen „Erwachsenen“. Was man früher „Freiraum“ genannt hätte, ist nun zu einer auch semiotisch – und am Ende auch ideologisch – ausgesprochen engen Welt geworden. Nicht die Idee, nicht die Reise, der Körper selbst wird zum Schlachtfeld, aber auch zur Begrenzung. Denn nicht zuletzt ist es ja auch ein Film über so vieles, was im Ritual nicht zu sich kommen darf, und es ist ein Film über die Liebe und die Enttäuschung. Janosch muß den Kreis des männerbündischen Bannens der Homosexualität verlassen, um das Glück im Schlamm eines leeren Schwimmbassins zu finden. Nicht auf der Ebene der Argumente, auf der Ebene des Körpers, auf der Ebene des Begehrens wird in „Oi! Warning“ die Skinhead-„Kultur“ verurteilt, als ein unmöglicher und besinnungslos gewalttätiger Versuch der Maskierung. Der Maskierung der bürgerlichen Apathie ebenso wie der Maskierung des unerfüllten Begehrens. Koma und die Seinen, das sind Männer, die weder zur Frau noch zum Mann noch zu sich selber kommen können. Merkwürdigerweise berührt gerade hier der Film die mediale Repräsentierung des Skins. Er ist nichts ohne sein Bild, er überwindet im Wahrgenommenwerden die Unmöglichkeit seines Zustandes, und er braucht dazu die Gewalt, um wenigstens so den Körper, der ihm fremd bleiben muß, zu bewahren. Deshalb kann man „Oi! Warning“ vielleicht auch als Tragödie (oder Groteske) des Männerkörpers in unserer Zeit ansehen.
Wir kennen den Typen, der längst schon ein zweites, bürgerliches Leben führt und zugleich um so militanter im Zwischenreich der Pubertät das Einhalten der Regeln und das Bewahren der Ideale verlangt, aus den unterschiedlichsten Kulturen. Nicht zuletzt der Männerbund Militär funktioniert auf diese Weise. Während Rocker und Mods zunächst vor allem von einer nomadischen Alternative zum stationären Spießer-Dasein der Eltern träumten, hat sich schon bei den Punks die Bewegung festgefressen, No Future hieß vor allem auch, daß es keinen Ort mehr geben würde, zu dem aufzubrechen sich lohnen würde. Man grub sich in die Ruinen ein (und schon die Hausbesetzer-Szene war ja durchaus ambivalent in der Besetzung eines bürgerlichen Lebensraums, den man immer nur zugleich in Frage stellen und fortsetzen konnte), und der Film findet dafür das richtige Bild im Rest der „Wagenburg“, im Spaß des Punks, sich in den Schlamm zu graben, in der Schwierigkeit aller Protagonisten, den Blick zu irgendeinem Horizont zu heben. Wenn der Skin seinen eigenen Körper zum letzten gültigen Bild, zur letzten Währung erhebt, so ist der Punk im Film der Redings eine Art Natur-Kobold, einer, der mit den Elementen spielt. Den heimlichen Neid, die Konkurrenz zur bürgerlichen Gesellschaft und die Affinität kennt er nicht. Und so wissen wir von Anfang an, daß wir nicht nur einem Kampf der kaputten lost boys des Spätkapitalismus zusehen, sondern auch dem Kampf zweier Geister aus den Wäldern der Endzeit. Caliban ist schizophren geworden.
„Oi! Warning“ beschreibt die Skin-Erfahrung von innen nach außen: Die drei Hauptdarsteller bringen ihre direkte Lebenserfahrung ein, sie haben erlebt, was sie darstellen, und sie sind stolz darauf – die Mädchen und Frauen werden dagegen von Schauspielerinnen verkörpert, was nur noch betont, wie sehr sie ausgeschlossen sind aus dieser Kultur der Männeridentifikation. Die Welt der Skins und Punks wird unmittelbar und, doch ja, zärtlich geschildert, die Welt der Bürger und der Erwachsenen in verzerrten, grotesken Einstellungen. Es ist, als müsse uns der Film beständig davor warnen, im falschen Umkehrschluß die Welt der guten Bürger zu rehabilitieren. Als wüßten wir nicht, wo der zweite Keim der Faschisierung zu finden wäre. Und der Film beschreibt eine Szene, die sich zwar gegen die eigene Faschisierung noch explizit wehrt, die aber gar nicht denkbar ist ohne diesen möglichen Umschlag. Koma und die Seinen wissen sehr genau, daß es die „Dummheit“ ist, die zwischen ihnen und den Naziskins steht. Aber ist dies die einzige Widerstandslinie? Vom ersten Bild an wissen wir, daß diese Faschisierung tiefer steckt, als es dann mit den manifesten Übernahmen faschistischer Ideologie, mit der rassistischen Füllung der Haß-Bilder, geschieht – es ist gleichsam eine Art von Faschismus im Rohzustand, die wir mit Janosch erleben und die wir, mit ihm und ohne Hilfe von Wissen, Ideologie und Solidarität, auch wieder zu verlassen suchen. Wie schwer das ist, darüber macht sich „Oi! Warning“ keine Illusionen. So nahe dran der Film ist, so präzise ist er auch darin, sich zu entfernen. Gerade weil er den Mythos von Körper und Raum, weil er das Sexuelle aufnimmt, steht er nicht in Gefahr, das Geschäft der Mythisierung zu betreiben. Er zerlegt das Bild vielmehr, in seine sexuellen, seine sozialen, seine ideologischen und seine biographischen Komponenten, und das nicht durch eine diskursive und ästhetische Anstrengung, sondern durch den Blick seines Helden, der sich, ganz buchstäblich, von den ersten traumhaften Bildern an verengen und erweitern muß. Auf einer tieferen Struktur ist dies nichts anderes als die Geschichte eines Jungen, der seiner bürgerlichen Gefangenschaft entflieht, um in eine noch furchtbarere präfaschistische Gefangenschaft zu geraten. Psychoanalytisch gesprochen, entflieht er der vaterlosen Anpassungswelt von Mutter und Freundin in die Welt eines dunklen Vaters, und den zu entlarven ist wesentlich schwieriger. Natürlich ist jede psychoanalytische auch eine politische Metapher, deshalb benutzt „Oi! Warning“ die Skin-Szenen nicht nur als Maske dieses Familienmärchens, man kann den Vorgang auch umkehren.
Es ist etwas da, was ihn hält, und es geht nicht weiter. Das verändert die fundamentale, archaische Erzählung vom Kind, das suchen muß: nach Liebe, nach Anerkennung, nach Richtung. Der Zauberwald, von dem das erste Traumbild noch spricht, ist abgebrannt. Das Stationäre scheint also beinahe so etwas wie eine Grundbedingung der Faschisierung der Skinhead-Bewegung, gegen die sich die Protagonisten aussprechen, die aber in jedem Bild als Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit aufscheint. Und der sie am Ende vermutlich, wenn sie nicht schon vorher an ihrer Szene selbst kaputtgegangen sind, nichts entgegenzusetzen haben. Ihrem Elend, so scheint es, können auch diese Noch-Nicht-Nazi-Skins nicht entkommen, weil sie zu nichts aufbrechen können.
„Wir wollen“, sagen die Redings, „den Zuschauern große Probleme bereiten.“ Das ist ihnen, vermute ich, durchaus gelungen. Denn weder führt „Oi! Warning“ zurück in die wohlfeile Mythisierung (wie der fürchterliche „Romper Stomper“) noch in die Medien-Modelle von Sozialfall und Alien. Der Film erzählt zwar – ein Skandal, gewiß – zärtlich und direkt, abgestoßen und zornig von Skinheads, aber er erzählt gegen den Mythos, gegen das Bild. Wer ist schuld, wenn das Leben schon zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat? Die Frage ist so klug gestellt, daß es die dumme Antwort der Naziskins darauf nicht geben kann. Auch wenn „Oi! Warning“ vielleicht vor allem ein Hippie-Film über Skinheads ist, komplett mit Sexualtheorie und Aussteigerkitsch (und damit bei weitem nicht so ideologiefrei, wie er sich selber gerne hätte), so gehört er doch zum Besten, was uns derzeit passieren kann. Weil, vielleicht, wenigstens im Kopf wieder etwas in Bewegung kommt.
Autor: Georg Seeßlen
Text geschrieben 2000
Text: veröffentlicht in konkret, Heft 11-2000
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar