Kaputtgehen in Berlin
oder: Drei interessante Kerle tun sich im Jahr 1931 zusammen und machen einen nicht ganz so interessanten Film: Berlin Alexanderplatz
Alfred Döblin war ein interessanter Kerl. Aus einer gutbürgerlichen, jüdischen Familie stammend wurde er in Berlin Nervenarzt; auf diesem Gebiet stritt man damals noch heftig. Nebenbei schrieb er für die expressionistische Zeitschrift „Der Sturm“ und rezensierte neue Literatur, Filme und Rundfunksendungen. Döblin war einer der wenigen in der deutschen Kultur des neuen Jahrhunderts, die es mit der Moderne ernst nahmen. Er war dann im Ersten Weltkrieg Feldarzt und veröffentlichte nach dem Krieg eine Reihe von Essays über das Leben in der Hauptstadt, manches davon wurde später Teil seines großen Romans „Berlin Alexanderplatz“. Alfred Döblin hat das, wovon er geschrieben hat, gut gekannt. Zu der Zeit engagierte er sich auch in der „Gruppe 1925“, dem Zusammenschluss der linksgerichteten Schriftsteller. 1933 begann seine lange Flucht vor den Nazis, die über Zürich nach Paris, von da nach Südfrankreich, nach Lissabon und schließlich in die USA führte. Seine Versuche, dort in der Filmindustrie als Drehbuchautor Fuß zu fassen, konnten wohl nicht gelingen. Er war in der deutschen Sprache zu Hause, und er war es nicht gewöhnt, Leuten nach dem Mund zu schreiben. Im Auftrag der französischen Militärverwaltung kam er 1945 nach Deutschland zurück; um seine Zeitschrift „Das goldene Tor“ sammelten sich junge Schriftsteller, die an die Traditionen der Weimarer Zeit anknüpfen wollten. Zu ihnen gehörte ein gewisser Günther Grass, dessen Texten man durchaus anmerken darf, wie viel er von Döblin gelernt hat. Aber Döblin selber war unglücklich im Deutschland der Restauration und des Wirtschaftswunders, und er war nicht weniger unglücklich über den „sozialistischen Dogmatismus“ in der DDR-Kultur. Als er im Jahr 1957 starb, war er dennoch in diesem Teil Deutschlands anerkannter als im Westen.
Was von Alfred Döblin vor allem geblieben ist, das ist dieser wahnwitzige Roman „Berlin Alexanderplatz“, der 1929 entstand; nicht nur der erste und größte Großstadtroman aus Deutschland, sondern auch ein Sprachwerk, das seinesgleichen sucht: ein heftiger Rhythmus aus Collagen, inneren Monologen, genauesten Detail-Beobachtungen, expressiven Wortkaskaden. Ein Text, der pure Gegenwärtigkeit, direktes Dabeisein erzeugt, als wäre man nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Körper dabei. Und bei alledem natürlich noch ein gewaltiger Brocken Gesellschaftskritik.
Phil Jutzi war ein interessanter Kerl. Er begann als Plakatmaler und drehte schon seit 1916 mit einer eigenen Kamera Filme. Nur so. Dann war er als Kameramann bei einer Filmfirma in Heidelberg dabei, wenn vor den Toren der Stadt Western und Detektivfilme für einen wachsenden deutschen Kino-Markt gedreht werden. Ab 1920 nannte sich Philipp Jutzi mit Vornamen Piel, aber der große Action-Star dieser Jahre, Harry Piel, hatte was gegen eine solche Ehrung und ließ ihm das gerichtlich verbieten. Derweil inszeniert Jutzi Filme wie „Bull Arizona, der Wüstenadler“. Bull ist ein mächtig starker Kerl und schnell mit dem Colt; nur die Wüste sieht verdammt nach Neckarwiese aus. Aber irgendwann reichten ihm Filme wie „Der Fremde mit der Teufelsfratze“ nicht mehr; Phil Jutzi, unter diesem Namen wird er schließlich in die Filmgeschichte eingehen, übersiedelt nach Berlin, kommt in Kontakt mit der „Internationalen Arbeiterhilfe“. Er schließt sich der Prometheus-Film an, und da wird aus dem Kameramann und Regisseur von deutschem pulp-fiction-Unfug ein Mitbegründer und – neben Slátan Dudow – Klassiker des proletarischen Films. Er arbeitet an den Verleihfassungen der sowjetischen Filme – 1930 stellt Jutzi zum Beispiel eine Tonversion von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ her. 1928 hat er den Film „Ums tägliche Brot“ gedreht, der ein realistisches Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Kohlenrevier von Waldenburg zeigt. Prompt reagierte die Zensur und ließ den Film nur mit erheblichen Schnitten aufführen. Aber die Bilder waren immer noch brisant genug, und vor allem die Grund-Idee macht den Gegensatz zum Kolportage-Kino der Zeit deutlich: Die Arbeiter selber stellen ihre Situation dar, es ist ihr Film. Im Jahr darauf dreht Jutzi nach Erzählungen von Heinrich Zille den Film, für den allein er wohl unsterblich geworden wäre: „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“. Das ist etwas ganz anderes als die idyllisch verklärten Zille-Filme, die zur gleichen Zeit in den Kinos laufen, ein Film, der mit wenig Geld, aber vor Ort und mit echten Menschen die Lage des Proletariats zeigt.
Der Erfolg dieses Films machte 1931 ein großes Projekt möglich, die Verfilmung von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ mit einem großen Star in der Rolle des Franz Biberkopf: Heinrich George, der damals selbst noch seine Sympathie für die Linke bekundete.
„Berlin Alexanderplatz“ war Phil Jutzis letzter großer Film. Nach der Machtergreifung der Nazis wurden seine Arbeiten verboten, er selber hielt sich mit Kurzfilmen über Wasser, drehte in Wien „unpolitische“ Actionfilme, von denen „Der Kosak und die Nachtigall“ trotzdem verboten wurde, und konnte 1937 noch zwei kurze Komödien mit Werner Finck drehen, bevor man ihm auch das verbot und er als Kameramann für die „Reichspost-Fernseh-Gesellschaft“ arbeiten musste. Er ist nach dem Krieg krank und allein und stirbt 1946, lange bevor man Phil Jutzi als den Meister des proletarisch-realistischen Kinos wiederentdeckt.
Heinrich George war ein interessanter Kerl. Ursprünglich hieß er Georg August Friedrich Schulz, aber ein Schauspieler-Genie heißt einfach nicht Schulz. Nachdem er verwundet aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen war, feiert er Bühnentriumphe in Dresden, Frankfurt und Berlin. Er gründete das „Schauspielertheater“; ein Versuch, sich dem kommerziellen Betrieb zu entziehen, auch politisches und modernes Theater zu machen, wenns sein muss auch für weniger Leute. Seit 1921 dreht er auch Filme. Da kreiert er ein Charakterbild, das vielleicht typisch für die Weimarer Republik ist: Immer erscheint da ein Mordstrum von Mann, vital und ein bisschen unbeholfen, genusssüchtig und gewalttätig, aber im tiefsten Inneren auch verletzlich, mit einer großen Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Schönheit. Die „Urkraft“ – so nannte das die Kritik damals – und die Sensibilität, diese Mischung war wie geschaffen für den frühen Tonfilm, und 1931 holt man ihn sogar nach Hollywood. Bei seiner Rückkehr haben sich die Verhältnisse geändert, und Heinrich George, der Linke, ist allzu schnell bereit, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren. In dem Propagandafilm „Hitlerjunge Quex“ spielt er den massigen Proletarier-Vater, der sich vom Kommunisten zum überzeugten Nazi wandelt, und das war wie ein öffentliches Bekenntnis. Die „Urkraft“ steht nun im Dienste der NS-Filmwirtschaft. Noch im letzten großen Durchhaltefilm „Kolberg“ kann niemand anderes als Heinrich George zur Verteidigung des Landes um jeden Preis aufrufen. Nach dem Krieg wurde er angeklagt und interniert, er starb an den Folgen einer Blinddarmoperation im Lager Sachsenhausen. Über seine politische Schuld mag und muss man streiten, seiner schauspielerischen Kraft kann man sich noch heute nicht mal entziehen, wenn man jeden Dialogsatz und jede Kameraeinstellung als perfide Stimmungsmache durchschaut.
Drei so interessante Kerle – Alfred Döblin schrieb zusammen mit Hans Wilhelm auch das Drehbuch zu dem Film „Berlin Alexanderplatz“ – können nur einen interessanten Film machen. Oder? Auch wenn der Regisseur Jutzi die direkte realistische Kraft von „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ nicht noch einmal erreichen kann. Auch wenn ein Film mit seiner Und-dann-Erzählung die fieberhafte Genauigkeit, das Simultane und das Klangliche der literarischen Vorlage nicht wiedergeben kann. (Der Film-Ton war auch technisch zu dieser Zeit noch nicht so weit entwickelt, als dass man ihn schon hätte so experimentell einsetzen können, wie es Döblin in seinen Klangwortketten tut.) Und auch wenn Heinrich George seine Kino-Rolle vom Mann, der sich selbst zu schwer ist, eben als typische Heinrich-George-Rolle spielte. Der Film wirkt, als wäre die Rolle des Franz Biberkopf für niemand anderen als für ihn, Heinrich George, geschrieben worden. Das kann man als Kompliment ebenso wie als Kritik auffassen. Aber an der imponierenden Ganzheit der Figur bricht sich der Film, er zerfällt: Da sind ein paar dokumentarische Aufnahmen von Berlin, die den direkten und genauen Blick auf die Großstadt aus den früheren Filmen weiterführen. Und da ist ein Kammerspiel, in dem Berlin nur noch als Kulissenklischee vorkommt. Da sind ein paar großartige Aufnahmen, zum Beispiel am Anfang, wenn Franz Biberkopf aus dem Gefängnis kommt, in denen der Film mit ein paar Gesten und Kamerabewegungen ungeheuer viel über die Situation seines Helden aussagt: Einsam ist er, der Franz Biberkopf, überfordert vom Tempo und Lärm der Stadt, und entschlossen, trotzdem ein ehrbares Leben zu führen. Und dann sind da wieder viele Szenen, die wie abgefilmtes Theater wirken. Wo der Film selber jede Inspiration aufgibt und sich ganz auf den Text und seine Schauspieler verlässt. Wenn man Roman und Film vergleicht, kann man nur sagen: Der Film traut sich nur ein Bruchteil von dem, was der Roman sich traut. An Anklage, Wirklichkeit, Schmutz und Gewalt. Siegfried Kracauer hat ziemlich ungnädig behauptet, dieser Film bewege sich kaum über dem Durchschnitt der Unterhaltungsfilme seiner Zeit. Das ist natürlich ein wenig übertrieben, aber es stimmt schon, da steckt ein Grundfehler in dem ganzen Unternehmen: „Man verzichtet darauf, der Vorlage zu folgen, die bereits halb und halb ein Filmmanuskript ist und entnimmt ihr lediglich eine geschlossene Unterweltshandlung, wie sie jeder gehobene Zerstreuungsroman bietet.“ Und zur echten pulp fiction fehlt dann auch wieder der Mut. Trotzdem: Zu entdecken gibt es in diesem Film noch reichlich genug. Nicht nur, weil man durch ihn in eine andere Zeit schauen kann. Mit anderen Bildern, anderen Geräuschen, anderen Worten. Und anderen Problemen? Viel menschlicher und achtsamer ist unsere Welt eigentlich nicht geworden, seitdem der Franz Biberkopf seine Chance vermasselte, die er ohnehin nicht hatte.
Die Geschichte ist ja eigentlich sehr einfach: Franz Biberkopf versucht nach vier Jahren im Zuchthaus – er hat im Zorn seine Braut erschlagen – in Berlin ein neues Leben anzufangen, aber schon die erste Szene, wo Heinrich George sich aus dem Gefängnistor schleppt und etwas ratlos in die Welt stapft, zeigt: Das wird schwer. Die Stadt selber, sie steckt voller Bedrohungen und Verwünschungen, voller Fallen und Verführungen. Franz Biberkopf hält stand, auch wenn ihn schon einfache Dinge der Bürokratie überfordern. Und dann gerät er in eine Intrige, ist zu schwerfällig, um zu bemerken, wie sich das fügt, dass er zuerst Schmiere stehen muss bei einem Bruch und dann den anderen lästig, ja gefährlich wird. Und als Franz verzweifelt erkennt: „Ich muss hier raus!“, da ist es auch schon zu spät. Er übersteht einen Mordversuch, verliert einen Arm, und die nächste Niederlage lauert schon. Weil einer wie Franz Biberkopf auch im Kleinbürgertum nicht wirklich zu Hause sein kann, ist jede Idee vom sozialen Aufstieg schon gleich wieder der Keim einer Katastrophe. Und so geht es: „Biberkopf ist ein kleiner Arbeiter. Wir wissen, was wir wissen, wir habens teuer bezahlen müssen.
Es geht in die Freiheit, die Freiheit hinein, die alte Welt muss stürzen, wach auf, die Morgenluft.
Und Schritt gefasst und rechts und links und rechts und links, marschieren, marschieren, wir ziehen in den Krieg, es ziehen mit uns hundert Spielleute mit, sie trommeln und pfeifen, widebum widebum, dem einen gehts grade, dem anderen gehts krumm, der eine bleibt stehen, der andere fällt um, der eine rennt weiter, der andere liegt stumm, widebum widebum“. So endet die Geschichte vom Franz Biberkopf. So ein Verschwinden in der Menge, unter dem Schlachtvieh des nächsten Krieges, ist natürlich für einen Heinrich George nicht möglich. Der braucht noch einen großen Auftritt.
Rainer Werner Fassbinder hat es bei seiner Version des Romans, die als bis dahin teuerste deutsche Fernsehproduktion entstand, paradoxerweise ein bisschen leichter gehabt. Nicht nur, weil das Kino mit den Jahren dazugelernt hat und die literarischen Effekte eines Döblin-Textes nun mit ein bisschen Idee und Geschick in filmische Effekte übersetzt werden können, und nicht nur, weil Günter Lamprecht ein Schauspieler ist, der ganz uneitel auch das ganz Gewöhnliche darstellen kann, sondern auch weil er in einer Kultur arbeitete, die Döblin in gewisser Weise verarbeitet hat. Ich meine damit nicht nur die vielen jugendlichen Leser, die „Berlin Alexanderplatz“ einmal umgehauen hat und dann nicht mehr losgelassen; die erschreckende und faszinierende Simultanität der Großstadt, der getriebene Charakter des Opfer-Täters Franz Biberkopf, das falsche Ganze, was in einem einzelnen Kopf denkt, man kennt das mittlerweile auch im Rock ’n‘ Roll. Aber wie es so geht: Als Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ 1980 herauskam, waren wieder einmal alle enttäuscht: die Döblin-Liebhaber, die Fassbinder-Liebhaber und die Liebhaber von ordentlichen Fernsehserien sowieso. Für die einen waren es wieder mal viel zu viel Kompromisse mit der Kolportage, für die anderen immer noch zu wenig. Aber warum hätte es diesem interessanten Kerl im Jahr 1980 auch anders ergehen sollen als seinen drei Vorgängern im Jahr 1931?
Georg Seeßlen , filmspiegel 02/ 2008
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