Die Sehnsucht nach dem wirklichen Leben
„Dann geh doch nach drüben!“, hieß es bei uns, wenn man es mal wieder übertrieb mit der Kritik an den Heiligtümern von Kapital, Kirche oder Krieg. Der eine oder die andere von uns hätten vielleicht nicht mal so viel dagegen gehabt, in den mindestens politisch-moralisch besseren Teil Deutschlands zu wechseln, wenn die DDR nur nicht einen so eklatanten Mangel an Dingen gezeigt hätte, die Spaß machen, nämlich Sex & Drugs & Rock’n’Roll. Sex gab es natürlich schon. Viel problemloser, direkter und natürlicher als auf unserer Seite. Aber nicht als Glamour-Inszenierung, nicht bigger than life, sondern eben gerade: als das Leben selbst. Wenn zwei Leute sich mögen, dann schlafen sie auch miteinander. Eine Garantie für das Glück ist das nicht. Davon, zum Beispiel, handelten einige der DEFA-Filme. Liebesfilme, wie man sie in einer Gesellschaft aus Beamtengemütlichkeit, Bigotterie, Warenhysterie und Kosmetik einfach nicht hinbekommen konnte, und erst recht nicht im Protest dagegen. Am Ende war „Die Legende von Paul und Paula“ nicht nur ein ziemlich guter Film, sondern Ausdruck von etwas, was uns definitiv fehlte. Als dürfte man bei uns alles auf die Leinwand bringen, nur nicht das wirkliche Leben.
Dass das „wirkliche Leben“ in vielen DEFA-Filmen sichtbar wurde, das hat nicht nur mit den Themen, den Menschen, den Traditionen zu tun, es ist auch direkte Folge von Einstellungen, von Handwerk, von Überlegungen bis ins technische Detail hinein. Nur zum Beispiel geht es in den Indianerfilmen der DEFA im Nachhinein gar nicht so sehr darum, ob das Geschichtsbild in ihnen „richtiger“ war als in amerikanischen Western oder bundesdeutschen Karl-May-Romanzen. Das war es natürlich. Aber beeindruckender ist, wie sogar in solchen Abenteuerphantasien das Interesse am wirklichen Leben von Menschen wach war. Neben der heroischen Pose, dem athletischen Körper, dem großen Wort war da zu sehen, wie jemand arbeitet, wie jemand überlegt, bevor er handelt, wie Alltag geschieht. Wie Menschen sind.
Der Alltag des wirklichen Lebens, das war es, wovor man in der BRD ins Kino flüchtete. In den DEFA-Filmen, jedenfalls in den gelungeneren, war er indes aufgehoben, vielleicht unter einer ebenso einfachen wie sensationellen Vorgabe: Das wirkliche Leben ist alles, was wir haben. Deshalb muss man, wenn man ein guter Mensch sein will, achtsam damit umgehen. Und deshalb muss ein Künstler, der auf sich hält, achtsam damit umgehen. Und, noch einfacher und noch sensationeller: Das wirkliche Leben ist schön.
Deswegen waren diese Filme groß, wo sie das wirkliche Leben verteidigten; insbesondere die Filme über Faschismus und Krieg, „Jakob der Lügner“, „Ich war neunzehn“, „Professor Mamlock“ zum Beispiel, das war so wichtig auf unserer Seite, nicht wegen der historischen Analyse, nicht einmal, weil sie im Vergleich zu unserer furchtbaren (und bis heute ungebrochenen) Genre-Produktion von Kriegsfilmen und Entschuldigungsmelodramen so wahrhaftig waren, sondern weil sie immer auf der Seite des Lebens standen, gegen die Todesverliebtheit auch unserer Filmkunst, einschließlich der Großen wie Fassbinder, Herzog, Syberberg etc. Die glaubten an die Kunst, sie glaubten an die Politik, aber ob sie auch an das Leben glaubten, und gar an die Menschen, ich bin mir da nicht sicher. In DEFA-Filmen bekam man eine Lebensverliebtheit mit, trotzig und bescheiden.
Das ist es auch, was den Humor mancher DEFA-Filme so anders machte. „Solo Sunny“ ist so ein Beispiel, wo das Komische nicht daraus entsteht, dass man von der Wirklichkeit absieht oder sich wenigstens eine Pause davon gönnt – „comic relief“ nennen das nicht von ungefähr die Hollywood-Leute, eine Entlastung durch das Komische – sondern vielmehr direkt aus der Genauigkeit der Beobachtung. Dass etwas hart sein kann, ohne böse zu sein, auch das war da zu lernen. Oder wie in „Spur der Steine“ Genre-Muster ironisch, aber ganz und gar am richtigen Leben orientiert, ins Drama kommen, das war nicht nachzumachen in der BRD, wo man sich nur durch echtes oder gespieltes Pathos gegen die Allmacht der Trivialität zur Wehr setzen konnte.
Das wirkliche Leben im DDR-Kino war immer dann großartig, wenn es sich mit großen Geschichten und großer Geschichte verband. Das Melodramatische, das Heroische, auch das Kreative, im westlichen Kino war das in aller Regel ein Bild, ein Traum. Hier war es eine Lebenspraxis, das Ergebnis von Verhältnissen, aber eben immer auch von Entscheidungen. Aber genau diese Haltung machte den DEFA-Film auch so anfällig; weil man so nah am Menschen war, war da nur wenig Platz für „sophistication“, für Doppeldeutigkeiten, für Schmuggelware in Wort und Bild. Anders als in den Cinematografien der östlichen Nachbarn konnte sich aus dieser Haltung von Lauterkeit und Genauigkeit kein Fluchtweg ins Absurde oder in filmische „Geheimcodes“ entwickeln. Mit eben den Mitteln, mit denen so genau das Leben wirklicher Menschen dargestellt werden konnte, konnte nicht das irrationale Wirken der Macht gezeigt werden. Von den eigenen Strukturen der Herrschaft ganz abgesehen: Ein DEFA-Film konnte sehr genau die Situation von Menschen im Faschismus zeigen; den Faschismus selber dagegen konnte er nicht zeigen, nicht einmal das Portrait eines Faschisten konnte gelingen. Denn das geht über das Konzept des konkreten Menschen in einem wirklichen Leben hinaus. Und selbst bei den kritischsten und genauesten DEFA-Filmen konnte uns schwanen: Sie machen die Welt besser als sie ist. Nicht etwa durch Beschönigungen, auch nicht durch Ideologie, sondern durch eben den unerschütterlichen Glauben an den Menschen. Aber sei’s drum: Filmischen Nihilismus hatten wir schließlich selber genug.
Besonders erstaunlich war, dass das Interesse am wirklichen Leben und am konkreten Menschen auch die Kinder betraf, auch, ja ganz besonders, wenn sie sich im märchenhaften Umfeld bewegten. Die DEFA-Kinderfilme war emanzipatorisch nicht wegen der Ideen, die darin geäußert wurden, sondern weil sie Kinder als Menschen wahrnahmen. Bei uns waren sie entweder das Problem oder die Lösung. Fremd nicht nur den Alten, sondern auch sich selbst. Unbarmherzig im Opfer, unbarmherziger noch im Kitsch. „Sieben Sommersprossen“, ein Film so nahe an Menschen, und er sah aus, als käme er nicht nur aus einem anderen Land, sondern aus einer anderen Welt.
Wer gelernt hatte, sich in der besseren zu wähnen, der konnte natürlich mit DEFA-Filmen weniger anfangen, denen es immer schwerfiel, „spektakulär“ zu sein. Ich meine das nicht nur technisch, was Explosionen oder Bauten anbelangt, ich meine, dass man die Liebe zum Filmischen immer vor allem im Detail sah. Darin, wie Filmemacher eine Schwierigkeit meisterten, darin, wie man lieber genau als auffällig sein wollte, darin, dass man sich lieber Zeit nahm für eine Szene, als sie durch einen Rhythmuswechsel zu dramatisieren.
Natürlich setzte sich das auch in den dokumentarischen Filmen fort. Kritische Dokumentarfilme bei uns im Westen, das waren oft vehemente Anklagen gegen die Verhältnisse, und sie konnten, was das anbelangt, seit den siebziger Jahren auch so genau sein, dass sie politischen Staub aufwirbelten. Aber oft sahen sie vor lauter Verhältnissen die Menschen nicht mehr. Dass ihnen dazu der lange Atem der Beobachtung fehlen musste, das lag auch an den Produktionsbedingungen; noch vor den Spielfilmen waren die großen Dokumentationen aus der DDR hierzulande Vorbild und Anstoß. Von Heynowski/Scheumann zu Volker Koepp: Diesen Blick auf das wirkliche Leben, diese Geduld und die Genauigkeit, das wollten wir auch haben. Aber gab es dazu überhaupt ein Objekt? Gab es eine Haltung dafür?
Paradoxerweise kann, wer das Glück des wirklichen Lebens nicht sehen kann (vor lauter Wunsch nach Erfolg oder nach Wirkung, zum Beispiel) auch das Unglück nicht begreifen. Was uns in DEFA-Filmen berührte, das war deshalb auch der Kamera-Blick, der das Unglück wiedergibt, die Bereitschaft, bei einem Menschen zu bleiben, selbst dort, wo es für ihn keine Handlung und keine Worte gibt.
Nicht zuletzt gehörten die Schauspieler zu den Meriten des DEFA-Filmes. Wahrscheinlich verhält es sich nicht so, dass es in der DDR diesbezüglich einfach mehr Talent und mehr Fleiß gegeben hätte. Es lag wohl viel eher in der Art, wie Schauspieler eingesetzt wurden. Sie hatten der Rolle zu dienen und nicht die Rolle ihrem Image. Insbesondere die Frauen so „ohne Maske“ zu sehen, war ungewöhnlich; ihnen beim Leben, beim Leiden, beim Lieben zuzusehen, war manchmal fast zu viel; die körperliche Intimität in den DEFA-Filmen ließ die Menschen oft regelrecht ungeschützt wirken. Man spürte förmlich den eigenen Blick und wusste nicht genau, ob man sich gerade besonders zärtlich oder besonders unverschämt vorkommen sollte. Nur ihre Vitalität war es, die diesem Blick standhielt. Je genauer man gewisse Filme aus der DDR ansah, desto verstörender konnte dieses intime, konkrete Menschenbild werden. Wir waren es einfach nicht gewohnt, einander so nah zu sein, es sei denn in der Form von Sex und Gewalt.
Unsere Begeisterung für den DEFA-Film hatte und hat natürlich einen Haken. Erstens nämlich haben wir hauptsächlich die guten Filme gesehen, und auch im Nachhinein bleiben die Kenntnisse außerhalb filmhistorischer Seminare in aller Regel auf die Highlights beschränkt. Denn machen wir uns nichts vor: Es gibt nicht nur schlechte DEFA-Filme, es gibt auch genügend Filme, die dem Anspruch und Eingriff der politischen Führung der Filmproduktion nicht standgehalten haben. (Am Furchtbarsten aber, nebenbei bemerkt, sind die DEFA-Filme, denen man die Vorgabe ansieht, „kontrolliertes Entertainment“ zu liefern: gebremste Wunschbilder und gebremste Hysterie!) Und zweitens war natürlich auf unserer Seite mehr Vergleichsmaterial vorhanden. Dem Mangel an Menschennähe in den eigenen Filmen konnte man auch in südlichere Gefilde, in französischen oder italienischen Filmen ausweichen. Nie konnte man im Westen nachempfinden, wie sichtbare Filme auch der andere Teil von unsichtbaren Filmen sind. Und wenn einem die Bilder vom wirklichen Leben zu viel wurden, konnte man sich jederzeit wieder in die Gefilde von Sex, Crime, schlechtem Geschmack aber auch von Dekadenz, Kunst und Manierismus begeben. Denn ehrlich gesagt: Das Kino des wirklichen Lebens möchte ich nicht missen. Aber richtig gut gemachte Dekadenz ist auch nicht zu verachten.
Im deutschen Kino der Gegenwart, so viel ist sicher, leben erstaunlich viele Impulse, die ohne den Einfluss von ein, zwei Dutzend DEFA-Filmen nicht möglich wären. Und das ist mehr und bessere deutsche Einheit als man anderswo zu sehen bekommt.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht im filmspiegel 06/ 2006
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