Seit es das Kino gibt, werden auch Filme über den Krieg gedreht. Bösartige Propaganda, nüchterne Dokumentationen, neurotische „Männerphantasien“, melodramatische Verklärungen, humanistischer Einspruch, Appelle gegen das massenhafte Schlachten. Eine eindeutige Grenze zwischen „Kriegsfilm“ und „Antikriegsfilm“ ist dabei gar nicht immer leicht zu ziehen. Jedenfalls scheint es nicht automatisch dieselbe Grenze zwischen einem wahren und einem falschen Bild vom Krieg zu sein. Niemand kann die Frage beantworten, wie weit sich ein Film auf die mörderische Faszination, das wahnsinnige ästhetische Spektakel des Krieges einlassen muss, um ein wahres Bild zu erzeugen. Niemand kann sagen, wie wahr oder gelogen eine pazifistische Geste ist, wenn man vorher Sandkastenspiele, technische Aufrüstung und Landserhumor genießen durfte.
Aber ein Film wird immer genannt, wenn es darum geht, ein Beispiel dafür zu nennen, dass ein Film aufrecht gegen den Krieg und zugleich realistisch in seiner Darstellung sein kann: Lewis Milestones „All Quiet On The Western Front“, die Verfilmung des Romans „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Die Nationalsozialisten, die im Jahr 1930 ihren wachsenden Einfluss geltend machen konnten, erwirkten im Zusammenspiel von Gewalt auf der Straße und in den Kinos und politischem Intrigenspiel ein Verbot des Films. Straßenschlachten auf der einen Seite, erhitzte Debatten im Reichstag auf der anderen: Der „Skandal“ dieses Films brachte die Nationalisten des alten Schlages und die neuen Nazis zu einer Front gegen „die öffentliche Verhöhnung der deutschen Soldatenseele“ zusammen. Ihr Zorn ist verständlich, denn nicht nur die Gewalt des Krieges ist das Thema, sondern auch die Verführung der Menschen durch die propagandistische Rhetorik und durch das falsche Beispiel.
Es ist die Geschichte von sieben Schuljungen, die vollgestopft werden mit patriotischem Eifer, mit Vorstellungen von Männlichkeit, die sich nur im Feld bewähren kann, und gedrängt von Umwelt und Schule in den Krieg ziehen. Sie geraten in das Grauen der Stellungskriege und verloren rasch ihre Illusionen. Nur wenige erweisen sich an der Front als anständige Menschen, und das sind nicht die bürgerlichen Offiziere, sondern die kleinen Leute, die ganz und gar nicht freiwillig in den Krieg gezogen sind. Sie erdulden Schmerz, Hunger, Schmutz und den tausendfachen Tod. Sie erleben, wie der Schleifer von einst sich als erbärmlicher Feigling entpuppt. Vor allem aber müssen sie erkennen, dass sie vollkommen allein gelassen sind, die „Heimat“ sich über ihr Opfer mit den propagandistischen Phrasen hinweghilft, die Offiziere beinahe ausschließlich nur „Menschenmaterial“ in ihnen sehen, der Kampf keineswegs ritterlich und heroisch geführt wird, sondern erbärmlich und rücksichtslos, dass die jungen Soldaten auf der anderen Seite genau so skrupellos in den Tod geschickt werden wie sie selbst, und dass jede Begründung für diesen Krieg mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun hat, außer der Leichtigkeit, mit der es die Gesellschaft und das Militär wegwerfen. Nur einer von den sieben überlebt. In einer der furchtbarsten Szenen des Films sehen wir, wie am Ende eine neue Gruppe junger Rekruten ihren Platz einnimmt. Das Sterben geht weiter, nicht einmal für Trauer ist Platz.
Nach all diesen Erfahrungen und Angst und Elend soll sich der junge Bäumer vor die Schüler seines Gymnasiums hinstellen und schon wieder die nächste Generation fürs Feuer vorbereiten, aber das kann er nicht. „Eiserne Jugend? – Wir sind alle nicht älter als zwanzig. Aber jung? Jugend? Das ist lange her“. So lange wie das Glück des jungen Kemmerich, der nun nur noch ein Bein hat und bald sterben wird und „allein ist mit seinem neunzehnjährigen Leben und weint, weil es ihn verlässt“. Worte und Szenen, die man ganz genau so im nächsten Krieg erleben könnte. Und im nächsten, und im nächsten.
Die ungeheure Wirkung des Films entsteht nicht zuletzt dadurch, dass der Regisseur die neuen Mittel der Filmtechnik einsetzen konnte und damit ein Bild des Krieges erzeugen konnte, das bis dahin niemand zu Gesicht bekommen hatte. Er zwang den Zuschauer förmlich zum „Dabeisein“ mitten im Grabenkrieg, die Granaten-Einschläge ebenso zu empfinden wie die Schmerzensschreie der Sterbenden – Steven Spielberg in „Saving Private Ryan“ hat den Zuschauern siebzig Jahre später noch einmal eine solche Erfahrung zugemutet, und doch ist selbst die furchtbare erste Viertelstunde seines Filmes kaum zu vergleichen mit der Wirkung von „All Quiet On The Western Front“ auf ein Publikum, das den Krieg bis dahin nur aus stummen, meist propagandistisch gefärbten Bildern kannte, als Genrebild der Etappe oder aus der angemaßten Perspektive des Feldherrnhügels. Milestone setzte das neue Mittel des Tons ganz bewusst als ein Mittel ein, den Zuschauer Angst und Unsicherheit spüren zu lassen. Und für die Kamerabewegungen stand ihm zum ersten Mal ein so großer Kran zur Verfügung, dass er die Bewegungen zwischen den Schützengräben, den Bombentrichtern und den Stacheldrahtanlagen von Anfang bis zum meist tödlichen Ende verfolgen konnte. Es war, kurzum, eine so drastische Erfahrung des Schlachtfelds, dass man seine inszenierten Kriegsbilder später in „Dokumentationen“ einzuschneiden pflegte, weil keine realen Aufnahmen so „authentisch“ wirkten.
Erst 1952 kam „Im Westen nichts Neues“ in die bundesdeutschen Kinos, und immer noch, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der faschistischen Verbrechen, wagte man nicht, dem Publikum jene Schlüsselszene vorzuführen, in der sich deutsche und französische Rekruten zwischen den feindlichen Linien begegnen. Nun aber ist der ganze Film zu sehen, und es zeigt sich, dass auch die Dramaturgie schlüssiger ist, als es die Kritik in den Jahren nach der Wiederaufführung im Kino im Jahr 1980 (noch in der gekürzten Fassung) sah. Freilich ist auch nicht zu übersehen, dass der Regisseur offensichtlich mit seinen technischen Mitteln so beschäftigt war, dass er sich für die Schauspielerführung nur noch wenig Zeit und Mühe geben konnte. Und indem er seine Darsteller gelegentlich allzu theatralisch ihr Antikriegspathos vortragen lässt, sabotiert er sein eigenes Unterfangen, der Realität des Kriegs nahe zu kommen.
Aber das ändert nichts daran, dass „Im Westen nichts Neues“ immer noch einer der bedeutendsten Filme über den Krieg ist. Weil der mächtige Kino-Apparat für einmal nicht dazu eingesetzt wurde, zu lügen.
Autor: Georg Seeßlen
Text: veröffentlicht in filmspiegel 06/ 2006
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