Eine gute und eine schlechte Nachricht für das amerikanische Kino par excellence, und beide lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Lawrence Kasdan hat zu dem, was man schon eine Renaissance des Western genannt hat, den ersten „Schinken“ gedreht. Es ist ein prächtiger Schinken geworden, mehr als drei Stunden Drama, Action, Schauwerte, eine Anthologie der Western-Zutaten, Showdown und Liebe, Pferde, Kutschen, die Eisenbahn, das Dampfschiff; weite Prärien, Tafelberge, Canyons; Boomtowns und einsame Farmen, Männer in schwarz, mit Hüten und Gewehren, Frauen, schön und keineswegs schwach; Wind, Sonne, Regen und Gewitter; und das alles zusammengehalten von einer virtuellen Biographie, die vom historischen Wyatt Earp wie vom Pistolen schwingenden Saubermann in den Kiddie-Matinees und später im Fernsehen, von John Fords MY DARLING CLEMENTINE so weit wie von Leslie A. Fiedlers „Rückkehr des verschwunden Amerikaners“ entfernt ist.
Das Drehbuch ist ungemein geschickt aufgebaut; es gewinnt aus einer Geschichte, die eigentlich längst zu Tode erzählt scheint, immer wieder Spannung, weil es ein halbes Dutzend anderer Geschichten, bekannte und weniger bekannte, damit zu verflechten vermag, ohne auch nur einmal den Erzählton zu verändern, weil es vernünftig in Bildern erzählt, uns neben der Hauptsache einer Sequenz immer schon die Nebenlinien mitteilt, die später bedeutsam werden, weil es durch seine elliptische Erzählweise Raum schafft für die Dramatik der Schlüsselszenen, auf die wir in einem Western warten dürfen. WYATT EARP ist ein Film, der 190 Minuten lang schnell erzählt, fast ohne Schnörkel, ohne in seinen Prachtwerten und Ritualen zu verweilen.
Das visuelle Konzept wird konstant durchgehalten – es ist ein period setting, eher symbiotisch genau als im nachprüfbaren Detail, Schmutz, Blut und Schweiß dosiert, ohne manieristisch zu werden, und doch in jeder Einstellung mit dem Touch des Mehr-als-Realen, und gleichwohl gibt es in dieser visuellen Konzeption noch genügend Möglichkeiten der Steigerung, der Anlässe, uns staunen zu machen.
Kasdan inszeniert diesen Western, der alles Zeug zum epischen Anthologiestück hat, das Breitwandformat perfekt nutzend, nicht so sehr in die heroische Fläche als in die seelentopographische Tiefe. Das ergibt eine eigentümliche, für die Situation der Charaktere des Films aber zutreffende Stimmung: Wir sehen die unendliche Weite des Landes und beobachten zugleich, wie die Menschen damit nichts anfangen können und darin in die Enge getrieben werden.
Und so beginnt auch, nach einem kurzen Prolog, der Film: ein riesiges Maisfeld ist zu sehen. Wyatt Earp als Knabe rennt hinein, buddelt ein dort verborgenes Gewehr aus, verabschiedet sich von seinen jüngeren Brüdern und will fort von zu Hause, in den Krieg ziehen. Aber sein Vater, zu Pferd, verfolgt ihn, und das schier endlose, mit mannshohen Pflanzen bewachsene, dichte Feld bewahrt ihn nicht davor, plötzlich und ausweglos vor dem fürsorglichen Verfolger zu stehen. In der Nacht nach seiner unfreiwilligen Heimkehr steht er vor dem Haus und zielt mit seinem Gewehr auf den Mond; gleich darauf kommen seine beiden älteren Brüder, abgekämpft, desillusioniert und
verwundet aus dem Bürgerkrieg heim. Aufbruch und Enge, Herausforderung und moralische und körperliche Dezimierung, das ist das Bewegungsprinzip für die Geschichte eines Mannes, der sich stets über den Verlust definieren muss.
In Kasdans Film wächst Wyatt Earp in einer Familie heran, die sich ihre eigene Vorstellung von der Welt gemacht hat; das einzige, was zählt, ist der Zusammenhalt der Familie, alle anderen, sagt der Vater, sind Fremde. Diese bizarre Besessenheit von der Familie als einzige verlässliche Ordnung in einer chaotischen Welt, wird diesen Wyatt Earp begleiten, wird seine Beziehungen zu Frauen, zu Freunden, zu Feinden weit mehr beeinflussen als Ideen davon, was Recht ist und wie Zivilisation auszusehen hätte. Als er Frau und Kind verloren hat, alle verlässliche Kontinuität, setzt er sein Haus in Brand, verkommt zum Säufer und Pferdedieb, und es ist der Vater, der ihn gerade noch vor dem Galgen retten kann, um ihn im gleichen Augenblick für immer fortzuschicken. Im Kampf für das Gesetz im Westen bekommt Wyatt wieder eine soziale Identität, aber tief in ihm arbeiten die seelischen Verwundungen, und es ist beinahe selbstverständlich, dass sich seine Krankheit an einer Gruppe von Banditen abarbeiten muss, die ganz ähnlich als Familie organisiert sind wie er und seine Brüder, mit den Frauen und gegen sie. Als einer seiner Brüder von den Clantons ermordet wird, hat seine Reaktion längst nichts mehr von Gesetz und Ordnung in sich, es ist ein biblischer Rachefeldzug. Aber dazwischen und darum herum geschieht vieles, was die simple und barbarische Rächergeschichte in immer anderem Licht erscheinen läßt. Wir sehen eine ganze Reihe von Möglichkeiten, auf ein grundlegendes Dilemma der Menschen im Westen zu reagieren: Sie sind Wesen, die mehreren Kulturen, mehreren Epochen, mehreren Stadien von Religion und Ideologie zugleich angehören, und daher, vielleicht, auch in mehreren Biographien gleichzeitig leben. Und keiner ist ohne Schuld.
Was ist mit der Legende, was mit der Wirklichkeit bei Wyatt Earp? Kasdan wischt dieses Problem, das einige der späten Wyatt-EarpFilme so wichtigtuerisch machte, schnell beiseite. Weder der Zeitgenosse noch der Film als Erzählinstanz sind es, die an der Legende Wyatt Earp zweifeln, noch wird der Widerspruch durch das John Fordsche „Print the Legend“ aufgelöst, vielmehr ist es der Held selbst, der zweifelt; von der einzigen als solche identifizierbaren „echten“ Heldentat (die Rettung eines Gefangenen vor dem Lynchtod) meint Wyatt Earp schon früh, dass er selbst nicht mehr genau unterscheiden könne, was Wahrheit und was Legende sei. Am Ende, als er mit seiner Frau nach Alaska unterwegs ist, zum Goldrausch, spricht ihn ein junger Mann an. Es ist der Neffe des Mannes, den Earp damals gerettet haben soll, und nur als seine Erinnerung sehen wir, wie Wyatt Earp offenbar einmal selbstlos, tapfer und gesetzestreu zugleich war. Manche Leute, sagt Earp dann, zweifeln daran, ob sich die Geschichte wirklich so zugetragen habe. Und seine Frau sagt: das macht nichts, wir wissen, wie es war. Sein Onkel, so der junge Mann, sei bald nach dem Vorfall erschossen worden. Es wäre sowieso nicht viel wert gewesen, ihn zu retten. Die Legende ist nur ein Abfallprodukt des Lebens, und das Leben ist nur ein Abfallprodukt des Wahns.
Darum muss Kasdan seinen Helden auch weder rehabilitieren noch verdammen; er zeigt ihn als einen, dessen Leben und dessen Legende Bedingungen haben. Die Story dieses Outlaws mit Marshal-Abzeichen, den wir lieben und verabscheuen müssen, funktioniert, weil der Film noch einmal mit den Erwartungen der Zuschauer spielt. Im Prolog sehen wir den Aufbruch Wyatt Earps zum Gunfight am O.K.Corral; im Film aber erweist sich, daß diese Vorahnung nicht auf die alles entscheidende Auseinandersetzung hinweist, die die zugleich mythische und materielle Lösung für alle Probleme bringen muß, wie in den meisten der Wyatt-Earp- Filme zuvor, sondern dass es sich dabei um eine blutig-groteske Schlächterei handelt, den Punkt des Umkippens für den Helden, und für das Umkippen des Dramas in seinen letzten Akt, in dem der Gewalt nichts Sinnstiftendes mehr bleiben kann. Der wichtigste Teil des Films beginnt erst nach dem, was in der Konvention sein Ende war.
Gewiß ist WYATT EARP ein relativ gewalttätiger Film, er zeigt vor allem den Schmerz und gelegentlich das Entsetzen über den Schmerz, den einer dem anderen antut. Kasdans Helden heulen, sie müssen sich übergeben, ihr Blick wird leer angesichts der Gewalt, die sie nicht nur untereinander ausüben, sondern, zum Beispiel als Büffelschlächter, auch an der Natur des Landes. WYATT EARP ist ein Film, der eine hoffnungslose Spirale der Gewalt zeigt, die paradoxerweise aus der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit kommt; um der Familie willen werden die Earps und die Clantons zu Mördern, um ihrer Seelen- und Krämerruhe wegen suchen die Bürger den Schutz des „starken Mannes“, den sie auch fürchten, um der Liebe willen versuchen sich Frauen und Männer gegenseitig umzubringen, so „Big Nose Kate“ Doc Holliday oder die liebende Hure Mattie Wyatt Earp.
Der Film ist bis in die Nebenrollen, ja bis in die Statisterie großartig besetzt. Jede und jeder darf Anteilnahme und Gerechtigkeit verlangen, so nahe sind wir ihnen. Aber schlichtweg genialisch ist Dennis Quaid in der Rolle von Doc Holliday, der mit wenigen scharfen Strichen eine tragikomische Figur von unendlicher Tiefe skizziert. Wie er ein Leben zum Tode ohne Pathos und ohne Pose, ein Wesen, das zugleich barbarischer Killer und gebildeter Mensch ist, darstellt, ohne seine Mitspieler an die Wand zu drücken, ohne hinter das Außergewöhnliche von Rolle und Darstellung ein triumphierendes Ausrufezeichen zu setzen, das macht ihm so leicht keiner nach. Und eine einzige Szene zwischen ihm und der nicht weniger wahnwitzig präsenten Isabella Rossellini erzählt uns noch einmal eine ganze, große Geschichte, die uns nicht mehr verlassen wird. WYATT EARP ist im übrigen ein Film, der viel von Frauen im Westen erzählt.
Nicht ganz so überzeugend wie Dramaturgie, Inszenierung und Schauspielarbeit ist die Montage ausgefallen. Es gibt zum einen Überblendungen, die sinnlos lange dauern, dann Schnitte in eine Bewegung hinein: Kleinigkeiten, nicht der Rede wert. Was eher schmerzt, ist ein immer wieder erkennbarer Verlust des Rhythmus, ein Schnitt, der sich oft einfach nur behilft. Ich vermute, dass der Film auf eine ganz andere Musik geschnitten wurde, als die am Ende verwendete von James Newton Howard. Womit wir bei der handwerklich wie künstlerisch größten Schwäche dieses Films wären: Howards Musik hat keinerlei period feeling, triumphiert klangkörperhaft orchestral zu imposanten Kranfahrten der Kamera, dräut, wo Dräuendes im Bild ist, schmust und zirpt, als gälte es, einen Werbespot akustisch zu illustrieren. Ist es egal, ob eine Geschichte in ferner Zukunft oder genauso ferner Vergangenheit spielt? Manche Bilder und Dialoge des Films sagen nein (es gibt Geschichte); die Musik sagt ja. Diese gedanken- und pausenlose Musiksoße macht den Film dümmer als er ist. Wenn Hollywood noch zu retten ist, muß es sich zuallererst von seinen Musikkonfektionären trennen.
Und damit zur schlechten Nachricht. Auch WYATT EARP ist infiziert von der Krankheit des Mainstream-Hollywood-Actionfilms der neunziger Jahre: er ist zu lang, er ist überproduziert und in seinem Bemühen, zugleich mythisch und diskursiv zu sein, zugleich verrätselt und beliebig. Kasdan und seine Entscheidung für den „Schinken“ entgehen zwar der Gefahr des neuen Western, auch stilistisch und mythisch beliebige Melangen herzustellen, aber man bedient dennoch zu viele (präsumtive) Bedürfnisse, um am Ende so etwas wie eine Botschaft herstellen zu können. Der Diskurs von Familie, Sexualität, Gewalt und Gesellschaft, den dieser Film durchaus bewunderswert entwickelt, verwischt seine eigenen Spuren. Drei Stunden und zehn Minuten war immer etwas los, aber noch viel länger brauchen wir, um herauszufinden, ob es etwas mit uns selbst zu tun hatte. Das hat es natürlich immer, aber zuviel Schinken macht satt und müde.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 9/94
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