Moderne Trauergesellschaft
Ein Künstler ist gestorben. Der Maler Jean-Baptiste Emmerich, ein ziemliches Ekel, wie wir aus seinem letzten Interview erfahren, das aus dem Off zu hören ist, als der Film beginnt. Ein einsamer alter Mann, des Lebens und der Liebe überdrüssig, wie das Foto belegt, das ihn allein in seinem Atelier zeigt. Ein faszinierender Mann, der nicht nur seine Liebhaber, sondern auch deren Freunde und Frauen noch nach seinem Tod bannt. Die Sonne, um die sie kreisten. Er hat sie manipuliert, verwirrt, zerstört, verzaubert. Noch sein letzter Wunsch ist beides zugleich, eine Geste seltsamer Zärtlichkeit und ein fieser Trick: »Wer mich liebt, der nimmt den Zug«.
Vom Gare d’Austerlitz nach Limoges also führt die Reise einer Gruppe von Menschen, die dem Anspruch gerecht werden wollen, in Jean-Baptistes Liebe gelebt zu haben. Nebenan auf der Landstraße fährt ein Wagen mit seinem Sarg. Darf man eigentlich einen Sarg in einem Privatauto transportieren?, fragt jemand. Du siehst es doch, sagt ein anderer. Das beschreibt zugleich die ästhetische Strategie des Films von Patrice Cherreau. Welchen Zweifel an der Wirklichkeit des Geschehens könnten wir haben. Wir sehen es doch.
Die fünfzehn Menschen im Zug nach Limoges, zuerst in der Hektik von Aufbruch und Reise, dann in der erzwungenen Enge und Ruhe der Eisenbahnabteile, führen die Kämpfe weiter, die sie zu Jean-Baptistes Lebenszeit geführt haben. Wer hat ihn am meisten geliebt? Wer war ihm in seiner letzten Zeit am nächsten? Wer erfüllt sein Vermächtnis? Wie wird man weiterleben? Die Liebenden werden durcheinandergebracht, eine Leidenschaft entflammt, ein Paar streitet sich, Erinnerungen kommen hoch und immer zugleich der Zweifel an ihrer Verlässlichkeit. Es ist ein seltsamer Reigen der Begierden, der Lebensängste und der Sehnsucht, der sich da in einem vollen Reisezug entfaltet. Wir erfahren viel von Menschen und von ihren Beziehungen, aber genau so viel bleibt dunkel und widersprüchlich. Wer sich gerade noch als kalter Zyniker gezeigt hat, leidet gleich darauf die Höllenqualen der verlorenen Liebe. Man möchte sich trösten und gleich darauf am liebsten umbringen. Das Auto mit dem Sarg rauscht, weil der Fahrer eingeschlafen ist, in ein Feld, und so erreicht der Leichnam den Friedhof auf einem Abschleppwagen.
In Limoges werden die Reisenden von Jean-Baptistes Bruder erwartet, er, der das trostlose Schuhgeschäft der Familie weitergeführt hat, der sich in seinem Haus vergraben hat. Der Reigen setzt sich fort, auch die Beerdigung ist ein Durcheinander von Ausbrüchen der verschiedensten Gefühle. Trauer und Hass. Und das Durcheinander der Liebe, der Familie und der Kunst erlebt schließlich die dramatischsten Auftritte bei dem „kleinen Imbiss“ nach der Bestattung und der regennassen Nacht, die sich anschließt. Am nächsten Tag verlassen die, die ihn (vielleicht) liebten, den Ort, an dem Jean-Baptiste geboren wurde und nun begraben ist. Jeder für sich jetzt, es gibt nichts mehr, was sie zusammenhält.
Jeder in dieser Gruppe hat seine eigene Geschichte, die dramatisch und grotesk genug für eine eigene Erzählung wäre; in ihren Hoffnungen und ihren Verletzungen ist ihr Leben so kunstvoll, durch Zärtlichkeit und Gemeinheit, miteinander verwoben, dass andrerseits niemand in der Lage ist, zum wirklichen Subjekt zu werden. Wenn man versuchen würde, diese Beziehungen in einer traditionellen »Inhaltsangabe« wiederzugeben, wüßte man nicht, wo anfangen und wo aufhören. Welche der Personen sollte man hervorheben? Jean-Baptistes Schüler Francois, der vielleicht die große Liebe seines Lebens war? Seinen Liebhaber Louis, der sich im Zug heftig und verzweifelt in den Jungen verliebt, von dem er später erfährt, dass er HIV-infiziert ist? Jean-Marie und Claude, das Paar, das mit sich und der Drogensucht kämpft? Nein, selbst jene Menschen, die scheinbar nur am Rande auftreten, sind so voller Leben, dass es ein Verrat wäre, ihre Geschichte als weniger bedeutend zu sehen. Jeder dieser Menschen befindet sich in einer Krise, und wir erfahren, was Krise bedeutet: Schmerz, einerseits. Aber andrerseits auch Chance und Veränderung. Weder die sexuellen, noch die familiären, noch die emotionalen Beziehungen sind ein für allemal festgelegt. So sehen wir nicht nur Menschen in verschiedenen Phasen des Verfalls zu, sondern auch Menschen in verschiedenen Phasen der Veränderung, bis hin zur Verwandlung des Geschlechts, bis hin zur Verwandlung der familiären Rolle. Diese Doppeldeutigkeit aller Krisen macht das verrückte Glück in diesem Film aus. Chéreau legt beinahe unendlich viele Spuren in das unendliche Geflecht des Lebens. Und alle diese Geschichten greifen ineinander, bedingen und zerstören einander. Der einzige Mensch, der, vielleicht, eine vollständige Person gewesen sein mochte, ist jener Jean-Baptiste, der freilich für jeden von ihnen etwas ganz anderes bedeuten haben mag und von dem wir nicht wissen, ob es Liebe oder Bosheit gewesen ist, was ihn zum Mittelpunkt dieses emotionalen Geflechts gemacht hat.
Patrice Chéreau ist diesem Reigen, den er und seine Co-Autoren Danièle Thompson und Pierre Trividic durch eine offensichtlich fast mathematische Konstruktion in Bewegung gesetzt haben, sehr nahe gerückt. Er hat weder den Blick eines »Insektenforschers« wie meinethalben Claude Chabrol, noch den eines Melodramatikers. Er ist mittendrin, läßt sich mitreißen, bleibt seinen Figuren selbst noch in intimsten Situationen wahrhaft hautnah. Aber er versucht nicht, sie zu »entlarven«. Es ist bewundernswert, wie seine Schauspielerinnen und Schauspieler diese Nähe aushalten und zurückgeben. Sie konstruieren keine Rollen, interpretieren nicht ein fremdes Leben, sondern schaffen pure Gegenwärtigkeit: Sehnsucht, Erschöpfung, Zorn, Verzweiflung, Trauer und Hoffnung. Dabei spürt Chéreau auch sehr genau dem Zauber seiner Orte nach, die Bewegung des Zuges, der kleine Bahnhof mit der sprechenden Bezeichnung »La Souterraine«, der riesige Friedhof von Limoges, der mehr Tote beherbergt als die Stadt Einwohner hat, die Landstraße und die Tankstelle, die vergangene Pracht des Hauses von Emmerich, das Schuhlager und selbst noch das Badezimmer: Nichts in diesem Film versucht bezeichnend zu sein, nichts aber auch erschöpft sich in reinem Oberflächenrealismus. So nahe wir diesen Menschen sind – und es ist vielleicht nicht unerheblich, dass Danièle Thompson ein »wirkliches« Geschehen zum Ausgangspunkt nahm -, so klar ist doch auch, dass wir uns nicht in einer Imitation des Lebens, sondern in einem Kunstwerk befinden. Es entfaltet sich wie eine musikalische Komposition in drei Sätzen, bei der zunehmend die Mehrstimmigkeit komplexer Melodieführungen auf das Wesentliche des Materials reduziert werden. Das ist, wie es Eric Rohmer von der Musik Mozarts gesagt hat: der Weg von der Fülle zur Genauigkeit.
Autor: Georg Seeßlen
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