Zu den Schrecken der modernen Kriege gehört es, dass sie audiovisuell überdokumentiert sind und rasch vergessen werden. Ari Folman erinnert an den ersten Libanon-Krieg in einem eigenwilligen, radikalen Dokumentarfilm
Alles beginnt damit, dass sein Freund Boaz dem Regisseur Ari Folman von einem Alptraum erzählt: Jede Nacht wird er von 26 blutgierigen Hunden gejagt. Bestimmt, sind sich die beiden einig, hat dieser Traum etwas mit den Erlebnissen im Libanon-Krieg von 1982 zu tun. Was Ari verblüfft: Er selbst hat seinen Einsatz damals vollkommen vergessen. Als 19-Jähriger war er in diesen Krieg gezogen, hatte die Grausamkeit auf beiden Seiten erlebt und das Überleben als seltsames Wunder. Aber was mit ihm und durch ihn geschah, daran fehlt die Erinnerung. Und so macht sich Folman auf die Suche, spricht mit alten Gefährten, mit Zeugen.
Ein zweiter Traum begleitet die Recherche: Junge, nackte Männer kommen aus dem Meer vor Beirut, kleiden sich an und gehen in die Stadt, wo klagende Frauen ihren Weg kreuzen. Die Geburt, das Erwachsenwerden, der Tod, alles in einem Bild, alles in einer Erfahrung: Es sind die Traumbilder, die dem sonst fast konventionell nach den Regeln des Recherchefilms erzählten „Waltz with Bashir“ Tiefe verleihen. Immer mehr Bilder kehren zurück. Nach vier Jahren Suche ist Ari Folman an der Schlüsselszene seiner verschütteten Kriegsbiografie, dem Massaker von Sabra und Schatila, bei dem im September 1982 westlich von Beirut im palästinensischen Flüchtlingslager Schätzungen zufolge bis zu 3000 Männer, Frauen und Kinder von den christlichen Falangisten ermordet wurden, unter den Augen der israelischen Armee. Es sind Realaufnahmen, mit denen der Film endet – wiedergewonnene Erinnerung, unerträglich: die Toten und die Untröstlichkeit der Überlebenden. Der Film »sieht« das, während der junge Ari die Hände vors Gesicht schlägt.
Ari Folman streift bei seiner Suche andere Motive. So registriert er eine innere Verbindung der verdrängten Massaker im Lager von Sabra mit einem anderen Lager, dem von Auschwitz. Folmans Erinnerung an den Krieg ist ein offenes System, ein Modell, das mehr bietet als eine Form von Selbsttherapie.
„Waltz with Bashir“ ist ein Dokumentarfilm, der Folmans eigene Reise in seine Vergangenheit beschreibt. Dass er als Form dazu eine raue Animation im Stil französischer Comics der achtziger und neunziger Jahre wählt, scheint auf den ersten Blick vor allem eine distanzierende Art der Verfremdung. Schließlich geht es um Dinge, die die Möglichkeit einer »realistischen« Inszenierung ebenso übersteigen wie die der Collage von Dokumenten. Aber mittlerweile hat der »dokumentarische Comic« auch eine künstlerische Tradition. Es begann in den Siebzigern mit der Comic-Reportage als Methode, zugleich die persönliche Verwobenheit in das Sujet darzustellen als auch der inneren und äußeren Zensur ein Schnippchen zu schlagen: Die Bilder, die man mit der Kamera nicht festhalten darf, die aber eingebrannt sind in der Empfindung, können mit dem Stift festgehalten werden. Gegenüber der Fotografie hat die Zeichnung auch den Vorteil, später noch abgerufen werden zu können, Zeichnungen kommen nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Erinnerung. Darüber hinaus entspricht die gezeichnete Erinnerung oder Dokumentation einem Misstrauen gegen die Fälschbarkeit der Bilder: Der subjektiven Wahrheit einer Zeichnung ist möglicherweise eher zu trauen als der objektiven Wirklichkeit einer Fotografie.
„Waltz with Bashir“ kombiniert indes fotografisch-filmische und grafisch-malerische Elemente: Zunächst wurden Szenen auf Video gedreht, das Filmische diente als Ausgangsmaterial für die Animation. Diese Technik hat neben den ästhetischen Freiräumen noch einen entscheidenden Vorteil: Sie ist vergleichsweise preiswert, was heißt, dass sich Filme wie dieser unabhängig produzieren lassen. Und sie funktionieren in einem Pop-Diskurs, der ein Publikum jenseits der Arthaus-Szene erreichen kann.Anerkannt wurde der dokumentarische Comic durch Art Spiegelmans »Maus« oder Marjane Satrapis Film „Persepolis“, Jacques Tardis Comic-Geschichte des Ersten Weltkriegs gehört zu den Klassikern. Eher eine Sache der Spezialisten sind die großartigen Comic-Reportagen von Joe Sacco, die »Stories from Bosnia« oder seine »Palestine«-Serie. In dieser grafisch-politischen Linie ist „Waltz“ näher an der fotografischen Realität; wie Richard Linklaters „A Scanner Darkly“ sollen die Bilder ihrerseits die Erinnerung an die gescannten Videos nicht verlieren.
Bei der Uraufführung des Films in Cannes fragten Kritiker nach dem »Mehrwert« der grafischen Darstellung. Das ist so schwer nicht zu erklären: In dieser Form hebt sich eine »Geschichte von unten« auf; an die Stelle eines mächtigen technologischen Apparates, der immer einen Rest des Obszönen hat gegenüber dem realen Leiden von Menschen in der Geschichte, tritt die subjektive und subversive Kraft des Zeichenstifts. Hier ist das Autobiografische keine Behauptung mehr. Denn die Stilisierung des Films entfernt sich weit vom State of the Art der computergenerierten Animation der Blockbuster: Es sind Bilder, die die Erinnerung zurückfordern von der »offiziellen Lesart«, von der Medienhysterie. Dann gibt es noch diesen »Mehrwert«: Die Erinnerung, die sich in der Genealogie niederschlägt – Folman hat seinen Film nicht zuletzt für seine Kinder gedreht – und der Protest gegen diese Verkettung, in der der eine Krieg immer schon den Keim des nächsten in sich trägt.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar