Ein Moped brettert durch eine jener französischen Provinzstädte, die tres charmant sind, wenn man nicht länger als zwei Tage in ihnen verbringen muß. Kaum, daß einmal in den langen Straßen der eine oder andere Mensch auftaucht; weit hinten versinken Hügel im Nebel des beginnenden Winters. In der Bar schaut Freddys Mutter Yvette auf den Fernseher, wo wir massakrierte Menschen in Afrika sehen. Ein schneller Fick, ein epileptischer Anfall, ein Besuch im Krankenhaus beim aidskranken Cloclo, ein Vogel namens „Leo“ in seinem Käfig, der erst im Frühjahr singen wird, und immer wieder die hellhörige Stadt mit ihrem Hundegebell, den Hahnenschreien von den umliegenden Bauernhöfen und den Geräuschen der Mopeds in den Straßen, durch die Freddy und seine Kumpane fahren, weil es sonst nichts gibt, was sie tun könnten. Tristesse. Wie schön es ist, sagt Freddys Freundin Marie, als die beiden mit einer Gondelbahn über das Land gleiten. Aber von hier kann man nur weg wollen, nach Lille vielleicht. Freddy sollte mit seiner Mutter darüber sprechen; Freddy wird nie von Bailleul fortkommen.
Die Musikkapelle marschiert durchs Dorf, während Marie in der Bar sitzt und ein Nordafrikaner auf seinen Sohn einschimpft. Die Musiker machen dann, beim Trinken danach, rassistische Scherze über sie. Kader, „der Araber“, bemüht sich um Marie. Freddy läßt sich die Haare schneiden. Immer häufiger fährt er nun mit bloßem Oberkörper herum. LA VIE DE JÉSUS, sagt Regisseur Bruno Dumont, ist auch ein Film über Körper. Der Körper ist das letzte, was man hat. Er will die Lust und die Gewalt spüren, er akzeptiert die Reduktion. Die immergleichen Straßen, die immergleichen Szenen, die immergleichen Einstellungen. Und doch verändert sich etwas. Weil Kader Marie angesprochen hat und sie mit ihm gesehen wurde, wird der Konflikt unausweichlich. Der Rassismus bekommt einen Inhalt. Kader, der es gewohnt ist, mit dem Tode bedroht zu werden, hier in Bailleul, ist ganz Blick, so wie Freddy ganz Körper werden will. Freddy sieht niemanden an, nicht einmal beim Sex, und wenn er und seine Mutter miteinander sprechen, sehen sie in entgegengesetzte Richtungen. Freddy und seine Gang machen Jagd auf den Araber, beim Friedhof werden sie noch einmal vertrieben. Sie vergewaltigen ein Mädchen nach der Probe, Marie ist empört. Sie läßt sich schließlich doch von Kader umarmen. Die Gang verfolgt Kader, sie reißen ihn vom Moped, und Freddy hört nicht auf, den am Boden Liegenden zu treten. Am nächsten Tag wird er von der Polizei abgeholt. Kader ist gestorben. Freddy flüchtet mit dem Moped und liegt im Feld. Wolken stehen vor die Sonne, eine Ameise läuft über seine Haut. Er heult. Wind fegt über das Land. Die Vögel singen. Aber Freddy schlägt nur stumpf den Körper auf den Boden.
LA VIE DE JÉSUS ist kein Film, der sich „um Authentizität bemüht“. Er hat sie einfach. Er hat sie wegen der Darsteller, die aus den Arbeitslosenlisten im Rathaus von Bailleul ausgewählt wurden; er hat sie durch die Stadt selbst; er hat sie, weil in den Gesichtern und in seiner einfachen Geschichte nichts gesucht wird, was über sie hinausginge; er hat sie, weil er keinen Augenblick versucht, die Fremdheit, die Sprachlosigkeit, das vollkommen absurde Nebeneinander von Rohheit und Zartheit hinwegzuerklären. Oft sehen wir lange auf Freddys Gesicht. Was tut sich da? Am Anfang haben wir ihn stets mit gesenktem Haupt gesehen, so als wolle er es vemeiden, irgend jemandem direkt in die Augen zu sehen. Nun ist sein Blick immer starrer geworden. Mit diesem Blick sieht er sein Opfer.
Der Titel des Films geht auf ein Buch von Ernest Renan zurück, der Jesus ganz ohne den religiösen Mythos (wenn man so will: ohne die Hoffnung, die später in ihn gesetzt wurde) zu erklären versuchte, und zuerst war es auch eine Art Verfilmung dieses Buches, die Bruno Dumont im Sinne hatte. Aber er wollte eine Geschichte aus seiner Zeit und in seiner Welt, eine Geschichte von Menschen erzählen, die er kennt, und die ihm doch fremd sind. Nichts ist an seiner Hauptfigur, was irgendwie an einen Messias erinnern könnte, nicht einmal in der Negation, und nicht einmal an ein Opfer, für das es irgendjemanden gebe, der es annehmen, der es auch nur verstehen könnte. LA VIE DE JÉSUS handelt davon, wie eine Gesellschaft, die nichts mehr von sich selbst und schon gar nichts über sich hinaus will, zu einer barbarischen Lebensform zurückstrebt. Freddy ist Produkt einer Welt, die vollkommen gelähmt ihrem eigenen Untergang entgegensieht. Die Arbeitslosigkeit, der Rassismus, die sinnlosen Gewaltrituale sind dafür genau so nur Symptome, wie das Auseinanderbrechen von sexueller Begierde und Zärtlichkeit, von Freundschaft und Haß. Es ist schwer, vom Tod zu sprechen, sagt Freddy zu seinem Freund, dessen Bruder an Aids gestorben ist, von der Liebe, und von alledem. Es ist mehr als das, es ist unmöglich geworden. Es ist eine Gespenstergesellschaft, da in der französischen Provinz, in der Provinz im Herzen Europas, in der man nichts mehr wünschen, und in der man nichts mehr hoffen kann.
Aber all das erklärt das Verhalten seiner Protagonisten nicht, noch wird ihnen gar verziehen. Deswegen ist Freddy auch viel mehr als das Produkt seiner Umwelt, wie es ein soziologischer und realistischer Film wohl darstellen würde. Sein Haß und seine emotionale Erstarrung erklärt sich nicht aus seinen Lebensumständen allein. Es ist weder Revolte noch Erfüllung, weder Zufall noch Absicht, so wie Freddys Epilepsie weder „Krankheit als Metapher noch Behinderung“ ist. Es ist eine buchstäbliche Auflösung des Menschen zu einem Zustand der Bloßheit. Bruno Dumont hat gesagt, er habe einen „christlichen Film“ gedreht; es ist wohl ein Film, der in seiner Zeit so christlich ist wie die Filme von Robert Bresson in ihrer Zeit christlich waren. Ein Film, der sich radikal dem Symbol verweigert, mehr noch, ein Film, in dem die Zeichen verstummen. Alle Einwohner von Bailleul beobachten einander, nichts bleibt ein Geheimnis, aber niemand sieht etwas, alles bleibt fremd. Freddy möchte seinem Vogel das Singen beibringen, indem er ihm ein Tonband mit Vogelstimmen vorspielt. Aber das Tier bleibt stumm. Die Vögel singen woanders, dort, wo Freddy sie nicht hören kann.
Man kann Dumonts Film wohl zweifach sehen: als ein verzweifeltes Verlangen nach Gnade in einer Welt, die sie aus sich selber nicht mehr hervorbringen kann, oder als grimmiges Verlangen nach einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung. Auf beides macht er, ganz und gar wahrhaftig, keine Hoffnung.
Autor: Georg Seeßlen
Text geschrieben 1997
Text veröffentlicht in epd film
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar