Der Tod bei der Arbeit
Sean Penn verfilmt Dürrenmatts „Versprechen“
Dass das Kino eine Kunst sei, die dem Tod bei der Arbeit zusieht, ist einerseits vollkommen wahr und andererseits eine Phrase, die alles und nichts besagen kann. Wahrscheinlich nicht anders verhält es sich mit dem kleinen Bruder dieses Satzes, der behauptet, das Kino sei eine Kunst, die den Menschen und den Dingen beim Älterwerden zusieht. Sean Penns dritte Regiearbeit aber nimmt diese Möglichkeit, diese Verurteilung des Kinos sehr ernst.
Den Anlass dafür, nein, gewiss sehr viel mehr, bildet eine neue Version des Stoffes von Friedrich Dürrenmatt, der als Roman den Titel Das Versprechen trägt. Ursprünglich war im Auftrag des Produzenten Lazar Wechsler eine Erzählung zum Thema Sexualverbrechen an Kindern entstanden, und das Drehbuch, das Dürrenmatt dann für den von Ladislav Vajda inszenierten Film schrieb, der „leider“ (so Dürrenmatt) den Titel Es geschah am hellichten Tag bekam, war vor allem als „Warnung“ gedacht, ein Stück mutiger Aufklärung im Jahr 1958.
Der Film wurde trotz Heinz Rühmann und trotz einer, sagen wir: nicht unproblematischen Psychologisierung des Täters einer der unheimlichsten der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Penn überträgt die Geschichte in den Bundesstaat Nevada. Aus Kommissar Matthäi wird Detective Jerry Black (Jack Nicholson), der während seines letzten Diensttages in „jenen Fall verwickelt wird, der ihn plötzlich leidenschaftlich werden ließ“. Die Leiche eines kleinen Mädchens wurde im Wald gefunden. Ein Junge hat den vorbestraften Indianer Toby Jay Wadenha (Benicio del Toro) verstört vom Tatort flüchten sehen, so glaubt man schnell, den Schuldigen gefunden zu haben. Schwieriger scheint es, den Eltern die traurige Mitteilung vom Tod ihres Kindes zu überbringen. Da gelingt Penn ein furchtbar genaues Bild, das zeigt, wie er die Möglichkeiten seines Stoffes und seine eigenen Erzählabsichten miteinander zu verbinden weiß. Jerry trifft die Mutter auf ihrer Truthahnfarm. Mitten im Lärm der aufgeregten Tiere muss Nicholson seine Nachricht überbringen. Da fasst der Regisseur mit einer Art finsterer Zärtlichkeit vieles zusammen, das hart arbeitende Amerika der Provinz, Lautstärke und Gestank, die verhärmten Gesichter des Ehepaars, das Leid, das Menschen treffen kann. Man versteht in diesem einen Bild eine Kultur, in der nur die Familie, die Arbeit und eine trostarme Form der Bigotterie existieren. Jerry gibt ein Versprechen ab, ein Versprechen, das der Polizist vielleicht nicht nur diesen beiden verzweifelten Menschen gibt, sondern auch vielem, was hinter ihnen liegt. „Bei meinem Seelenheil verspreche ich, Jennys Mörder zu finden.“ Es ist ein Versprechen, von dem er erst nach und nach begreift, dass es größer ist als er selbst.
An die Schuld des Indianers glaubt er nicht. Jerry strengt eigene Ermittlungen an und kommt durch alte Zeichnungen des Opfers auf eine Spur. Er mietet eine heruntergekommene Tankstelle, nimmt Lori (Robin Wright Penn) und ihre kleine Tochter Chrissy auf, die ihm zum Lockvogel für den Mörder wird.
Der Plot ist so klar, dass wir uns auf die Bilder und die Menschen einlassen können. Das Ende aber kommt, obwohl Penn uns darauf vorbereitet, selbst dann wie ein Schock, wenn man aus dem Roman weiß, dass die Sache nicht so ausgehen kann wie in Es geschah am hellichten Tag.
Penn erzählt vom Sterben der Kinder und vom schweren Leben alter Leute, gespielt unter anderem von Vanessa Redgrave, Harry Dean Stanton und Mickey Rourke. Selten sieht man so viele Menschen am Ende ihres Lebens und ihrer Träume. Das Versprechen von Jerry Black ist es, was beides verbindet: Ein Sinn des endenden Lebens könnte es sein, gegen den Tod der Kinder zu kämpfen.
Die moralische Falle, von der Roman und Film erzählen, wird dabei zu einem Bild des absurden Kreisens. Wir sehen einem Tod bei der Arbeit zu, der seinen Auftrag nicht mehr lieben kann, der die einen zu früh sterben, die anderen nicht getröstet sterben lässt. Das Versprechen ist ein Film, der von Spielarten der Einsamkeit handelt und davon, dass man nichts hat als sein Leben. Er böte kaum mehr als einen Blick in die Hölle, wenn Penns Blick nicht zugleich auf eine seltene Qualität der Anteilnahme zielte. Dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen ist nur die eine Seite der Kino-Kunst. Die andere ist es, das Leben zu retten.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in DIE ZEIT, 42/2001
- MISCHPOKE II - 4. März 2024
- Bruno Jasieński: Die Nase - 27. Juli 2021
- Manifest für ein Kino nach Corona | Brauchen wir andere Filme? - 27. Juli 2021
Schreibe einen Kommentar