Dieser Film ist vielleicht ein Beleg dafür, dass man auch im Kino nicht jede beliebige Geschichte in jedem beliebigem Idiom erzählen und damit bei jedem beliebigen Publikum erfolgreich sein kann. Und vielleicht, wer weiß, gibt es Geschichten, die man mit den Mitteln des Kinos überhaupt nicht erzählen kann. Jedenfalls nicht direkt.
SWING KIDS ist ein anglo-amerikanischer Film, der in Prag über das Deutschland des Jahres 1939 gedreht worden ist. Prag soll Hamburg repräsentieren, da tut sich die verwinkelte Stadt schwer. Hier hat sich eine Gruppe Jugendlicher gebildet, die trotz des wachsenden Drucks durch die Nazis der englischen Mode, der Musik von Benny Goodman, Count Basie und Django Reinhardt und einer ganz und gar zivilen Lebensführung treu bleibt: die Swing Kids. Diese Bewegung ist ohne offenen politischen Anspruch; ein intensives, zwischen Snobismus und physischer Rebellion oszillierndes Lebensgefühl entspräche einer mittelständischen Umwandlung des sozialen Zustandes Jugend, so wie sie sich in anderen Gesellschaften abzeichnet, in denen nicht der Faschismus an die Macht gelangt ist. Der Konflikt mit den Faschisten ist nicht geplant, aber unausweichlich: die musikalischen Idole der Swing Kids sind schwarz und jüdisch, die Mode feminin, dandyhaft, mit grotesker Huldigung an alles Englische (der Regenschirm gehört zur Grundausstattung), die Tänze von wilder, obszöner Individualität und die Moral ausgesprochen undeutsch. Der Film beschreibt den Zerfall einer Swing-Kids-Gruppe unter dem unbarmherzigen Druck von Gewalt und Erpressung, und er handelt davon, wie aus einer anfänglich naiven Verweigerung über die Suche eines Lebenskompromisses nur die Geste bewussten Widerstandes werden kann.
Peter, Thomas und Arvid sind das Zentrum der Gruppe; ihre Gefährdung ist schon offenkundig, doch noch lassen sich die jungen Leute nicht beirren, auch wenn der frühere Jazzmusiker Emil jetzt fanatisches Mitglied der Hitlerjugend ist, auch wenn die Band im Tanzcafe schnell von Swing auf deutsche Volksmusik umschaltet, wenn SA und HJ im Anzug sind, auch wenn man Zeuge wird, wie ein Flüchtender von der Gestapo erschossen wird. Peters Bruder Willi, der so gern bei den Swing Boys mitmachen würde, alarmiert die Gruppe: Hitlerjungen schlagen einen Swing Boy zusammen. Die Uniformierten werden vertrieben, der Krieg ist eröffnet, der vermeintliche Swing Boy ist ein Jude. Schritt für Schritt verliert Peter seine politische Naivität. Zuhause wird die Mutter vom Blockwart bedrängt und misshandelt, und als Peter dazwischentritt, rettet ihn nur der Auftritt des mysteriösen Gestapo-Mannes Knopp vor der Denunziation.
Noch ganz und gar individuell ist der Versuch von Peter und Thomas, ein bei einer „Arisierung“ entwendetes Radio zurückzustehlen. Peter wird gefasst, und wieder kann er nur durch Knopps Hilfe freikommen. Bedingung ist freilich, dass er in die HJ eintritt. Und wie er, so richtet sich auch Thomas, der ihm gefolgt ist, zunächst an der Illusion auf, man könnte tagsüber bei der Hitlerjugend und nachts Swing Kid sein. Aber mehr und mehr gerät Thomas in den Bann des Faschismus, verrät seinen Vater an die Nazis, wendet sich gegen Arvid, den „verkrüppelten Juden“, und entzweit sich mit Peter. Arvid begeht Selbstmord; sich als Swing Boy zu erkennen zu geben, wird lebensgefährlich, und Peter provoziert bewusst, als er entdeckt hat, dass man ihn als Spitzel missbraucht, die Konfrontation in einem Tanzcafe. Statt zu fliehen, geht er freiwillig ins Arbeitslager. „Swing Heil“ ruft er noch vom Lastwagen herunter, der ihn abtransportiert.
Der Versuch, Soap Opera, Pubertätsdrama, Zeitbild und Musikfilm mit einer Parabel über Freundschaft, Macht und Korruption zu verknüpfen, wirkt überall dort peinigend lächerlich, wo er sich allgemeine Gültigkeit und historische Wahrheit anmaßt. Schon der rebellische Gestus des Swing scheint in diesem Zusammenhang übertrieben stilisiert – so wie die Musik selbst, in Kenntnis ihrer weiteren Entwicklung, ein wenig falsch „verschärft“ scheint. Das betrifft nicht nur den Aspekt kulturgeschichtlicher Genauigkeit, sondern auch die Balance gestalterischer Mittel.
Seine etwas besseren Momente hat der Film, wenn er von seinen Absichten und dem bemühten historischen Ambiente absieht und „nur“ die Geschichte von ein paar Jungen erzählt, die während und weil sie erwachsen werden, bekennen müssen, wieviel ihnen ein gemeinsamer Traum wirklich wert ist. Diese Geschichte wiederholt sich in der Tat immer wieder, und sie in die Zeit des Nationalsozialismus zu verlegen, macht doppelt Sinn: um den Zugriff des Faschismus auf den Einzelnen und seine Mitschuld zu klären und um ihn als Sonder- und Extremfall einer Organisation gesellschaftlicher Macht kenntlich zu machen.
Dass diese Möglichkeit, zugleich historisch und aktuell zu erzählen, vertan wurde, liegt schon in der Uberfrachtung des Drehbuches, das sich auf keinen seiner Aspekte wirklich einlässt. Der furchtbar angelsächsische Familienroman des Peter Müller verstellt nur den Blick auf seine Konfliktsituation, die Liebesgeschichte erzählt nur davon, daß sie irgendwie im Leben eines jungen Menschen nicht fehlen darf, und was Kenneth Branaghs statuarisch abgründiger Gestapo-Mann Knopp uns sagen will, die perfekte Verkörperung des Bösen und ihr einzig menschliches Gesicht, das mögen die verstoßenen Götter des Film noir wissen. Da kommt noch einmal ein vollständig anderer Ton ins Spiel; Branagh extemporiert eine Orson-Welles-Rolle, ohne sich offenbar allzu intensiv mit dem Drehbuch auseinandergesetzt zu haben.
Immerhin: SWING KIDS ist einer jener interessant misslungenen Filme, die uns neugierig auf den „richtigen“ Film zum Thema machen.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 6/93
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