Das entflochtene Band
David Lynchs neuer Film »The Straight Story« überwindet das postmoderne Kino
Das »klassische« Mainstream-Kino, der amerikanische Genre-Film und seine zumeist eher trashigen Ableger in Europa, und das bürgerliche Erzählkino des »psychologischen Realismus« befinden sich spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre in einer Form der permanenten Krise. Das Bedürfnis nach Wiederkehr des Gleichen, nach ideologisch-ästhetischer Kontinuität, wurde vom Fernsehen besser bedient, die Konkurrenz des einen Mediums mit dem anderen äußerte sich schließlich vor allem auch als Konkurrenz des einen Films mit dem anderen: Statt einen Sinn-Markt zu konstruieren und zu stabilisieren, musste nun jeder einzelne Film auf diesem Markt überhaupt überleben, und er konnte es nur, indem er versprach, irgend etwas »anderes« zu bieten. Mehr Stars, größere Schauwerte, technische Innovationen, moralische Grenzüberschreitungen, schließlich sogar »unerhörte Botschaften«. Auf der anderen Seite war die Industrie hoffnungslos überaltert, das Studio-System in den USA und die »Tradition der Qualität« in Europa begannen, am Publikum vorbeizuproduzieren, und gerade die Prestige-Produktionen, die den nach wie vor beträchtlichen Reichtum der Traumfabrik ausstellten, zogen kaum noch junge Leute an. Zwischen 1957 und 1966 betrug das Durchschnittsalter der Regisseure, die bei der Oscar-Verleihung für den »besten Film« ausgezeichnet wurden, 52 Jahre. Der Nachwuchs konnte unter den Bedingungen einer versteinerten Gerontokratie nun nicht mehr aus dem Zentrum der Produktion selber stammen, er entwickelte sich zum einen bei den Independents, wie Roger Corman (sein Einfluss auf die Entwicklung eines »New Hollywood« ist in doppeltem Sinne »legendär«), zum anderen bildeten die neuen Film-Hochschulen eine Generation von Filmemachern heran, die in der Lage waren, europäische Einflüsse zu absorbieren, und sich durch eine genaue Kenntnis der Filmgeschichte auszeichneten. Einige überraschende Erfolge kleiner, unabhängiger Produktionen führten zum Konzept der »Wunderkinder« in der amerikanischen Film-Industrie. Zwischen 1972 und 1979 betrug das Durchschnittsalter der Oscar-Gewinner 38 Jahre.
Einstige Wunderkinder wie Steven Spielberg und George Lucas bildeten in den siebziger und achtziger Jahren neue Produktionszusammenhänge aus, in denen effektvolle, selbstreferentielle und jugend-orientierte Filme entstanden. Andere, z. B. Michael Cimino, verursachten heftige ökonomische Katastrophen, die bis zum finanziellen Ruin »alter« Studios führten. Wenige indes konnten sich entweder jenseits von Hollywood etablieren wie Jim Jarmusch oder eine Art der künstlerischen Doppelexistenz führen wie John Cassavetes, der als Schauspieler in Mainstream-Produktionen die Basis für eigene, »moderne« Projekte schuf, oder wie John Sayles, der Drehbücher für die Studios schrieb und eigene Filme in unabhängiger Arbeitsweise herstellte. Schließlich gelang es einigen Regisseuren, als »Autoren« zu reüssieren, wie Martin Scorsese oder David Lynch, die einen prekären Außenseiter-Status einnehmen.
Am Ende aller dieser parallelen Entwicklungen hatte sich Hollywood modernisiert, vor allem, um sich gleich zu bleiben. Ein modernes Kino nach dem Vorbild der europäischen »Neuen Wellen« war zwar gescheitert, aber die Produktion und der Markt selber hatten sich zeitgemäß geöffnet. Zur gleichen Zeit war das Kino in Europa, gerade weil es sich ästhetisch, ideologisch und ökonomisch als Gegenmodell anbot, zu einer subventionierten Kulturware geworden, der das »Moderne« auf ganz andere Weise ausgetrieben wurde. Der Kampf der »neuen« gegen die »alten« Bilder im Kino wurde nationalisiert, während sich der Mainstream-Markt zunehmend globalisierte. Die wirtschaftliche Gesundheit der amerikanischen Filmproduktion war ursprünglich durch die Stärke des Binnenmarktes gesichert, seit den achtziger Jahren aber sind die Export-Erlöse keine Extraprofite mehr, sondern die Grundlage der Amortisationsrechnung. Die Auslands-Erlöse übersteigen längst die Einnahmen aus dem heimischen Circuit, so wie das Merchandising, die Verwertung der Zweitrechte, die topographische wie semiotische Ausbreitung also, mediale Gesamtkonzepte produziert, für die der Film eher Auslöser ist. Aber auch die Ansätze des »jungen«, »modernen« und »unabhängigen« Kinos in Amerika können nur durch die Aufmerksamkeit vor allem in Europa existieren.
Das Kino hatte sich damit modernisiert, gleichwohl aber war der Angriff der Moderne auf das Kino, ästhetisch wie politisch, abgeschlagen oder marginalisiert worden. Der dynamische Markt des Kinos konnte nicht als ein entropisches System weiterexistieren wie das Fernsehen (more of the same als Überbietungsstrategie), aber es konnte auch nicht »revolutioniert« werden. In dieser Situation musste das »Postmoderne« als einzig mögliche Moderne im Kino erscheinen, von dem sich allenfalls in Einzelfällen sagen ließ, ob das Moderne als Schmuggelware in den Mainstream gelangte oder ob umgekehrt der Mainstream Impulse der Moderne gefressen und verdaut hatte.
David Lynch gehört zu den prominentesten Vertretern dieses postmodernen Kinos, das das Körperliche und das Mechanische, Abbild und Sinnbild, Text und Bild in eine neue Beziehung brachte. Filme wie »Blue Velvet« oder »Wild at Heart« waren zugleich Kult-Stücke des Neo-Pop-Diskurses und cinematographische Seitenstücke zu einem mehr oder minder neuen Philosophieren. Sie gingen, oft ganz buchstäblich, »unter die Haut« und setzten, statt einer mythischen Rekonstruktion der Wirklichkeit, auf eine filmische Untersuchung neuer Wahrnehmungsweisen: Das Detail des Realen wurde so fragmentiert und genau angesehen, daß es seine eindeutige Lesbarkeit verlor, und die Realität wurde als Kulisse einer gesellschaftlichen Konstruktion durchschaut, die man freilich nicht nur als Maske von Korruption und Wahn verstand, die es zu »entlarven« gilt, um die »Wahrheit« dahinter zum Vorschein zu bringen. Keine »echte« Realität hinter der falschen. Lynchville war der (amerikanische) Ort, der förmlich cineastisch aufgebrochen wurde, ein Bild- und Text-Cracking, das auch die letzte Einheit der Erzählung, die bürgerliche »Person«, nicht heil ließ. Während der Mainstream-Film mit den mehrfachen Codierungen ein mehr oder weniger intelligentes, mehr oder weniger frivoles Spiel trieb, wurde das Codieren bei Lynch selber zum Thema. Der Leitfaden dazu war die in den Filmen fortlaufend entwickelte Geschichte eines »nicht zu Ende geborenen Mannes«, der unter die Haut seines eigenen Familienromans, unter die Haut seiner selbst gelangte und in dem sich die fundamentalen Ereignisse, Geburt, Liebe und Tod, in endlosen Schleifen bewegten. Unter der Haut gibt es die ordentlichen Beziehungen von Traum und Wirklichkeit, von Transzendenz und Materialität nicht mehr. In Lynch-Filmen »dachten« wir in den Körpern und in den Mythen, das Ich und die Welt flossen ineinander. Daher konnten sich die Verhältnisse der Menschen und Dinge nicht mehr (allein) durch Erkenntnis und Interesse organisieren. So wie in den Denkspiralen neuer Philosophen gelangte auch hier die Aufklärung gleichsam über sich selbst hinaus, und es war höchst schwierig zu bestimmen, ob dieser Weg vorwärts oder zurück führte. Immerhin war es, wie bei einigen anderen Vertretern des postmodernen Kinos, bei Atom Egoyan oder Pedro Almódovar zum Beispiel, auch bei Lynch sehr deutlich, dass es sich weder um eine zynische noch um eine nur ironische Auflösung handelte. Lynchs Filme haben den Verlust des Menschlichen in seiner Realität nicht zelebriert, sie haben ihn zugleich analysiert und betrauert.
Die Wahrnehmung des Realen, des Dings, des Körpers, des Geschehens, das nicht identisch ist mit seiner Bedeutung, beschrieb eine Suche nach dem Menschen in seiner Nach-Zeit. Fast noch naiv betrieb Lynch in »The Elephant Man« diese Suche nach dem Menschlichen in der Gestalt eines Wesens, das so sehr aus Realem (einem ungestalten, »unsinnigen« und wuchernden Körper) bestand, daß ihm die Teilhabe an der gesellschaftlichen und moralischen Realität verweigert wird. Wie wird der Körper zur Realität? Gewiß wie alle Dinge durch die Konstruktion einer Oberfläche. Wenn das Reale aus ihm hervorbricht, verliert er seine Realität. Nie hat jemand auf der Leinwand einen Menschen so nackt gezeigt wie David Lynch Isabella Rossellini in »Blue Velvet« (und die Grausamkeit dieses Aktes haben manche Menschen dem Regisseur so wenig verziehen wie die Blicke unter die Haut, die flashes zwischen Gewalt und Kindertraum in »Wild at Heart«: Die Begeisterung, die Lynchs postmoderne Filme auslösten, ist nicht zu denken ohne die reichlich hysterischen Abwehrversuche gegen ihren Skandal). Was Lynch betreibt, ist nicht mehr das Projekt der Überführung des Realen in die Realität, insofern mögen sie weder in klassischer Weise Sinn produzieren, noch in der modernen Weise die Kritik dieser Realität betreiben.
Die Fernsehserie »Twin Peaks«, die einer Ordnung der Genres so wenig mehr gehorcht wie einer konsistenten Erzählhaltung, mag einerseits als Höhepunkt von Lynchs höchsteigener Anwendung der postmodernen Ästhetik erscheinen. Andrerseits beginnt er darin aber auch bereits damit, den Knoten zwischen dem Realen und der Realität aufzulösen, die Fäden in der Vernetzung auszubreiten. Zwar geht es auch hier wieder um eine Investigation eines jungen Mannes, der ganz buchstäblich unter die Haut einer »elterlichen« Realität gelangt – es ist eine lange Reise durch den »heiligen« Körper des Mädchens als erster und letzter Einheit der gesellschaftlichen Realität: durch das Geschlecht, das nicht seines ist – , aber andererseits läßt er hier auch den Blickwechsel zu. Statt der undeutlichen und überdeutlichen Wesen, die sich zeigen, wenn zwischen Ich und Welt keine »Haut« steht, sehen wir fremde Subjekte, Erscheinungen des Realen, die Mensch werden wollen und sich dabei unendlich spalten und vereinigen, sezieren und übermalen. Niemandem gelingt es, ein »Individuum«, ein ungeteiltes oder gar unteilbares, zu werden, auch dem Helden nicht, und die Ökonomie schafft es schon gar nicht, den »ganzen Menschen« zu erzeugen. Doch die Vielzahl der Erzählungen in »Twin Peaks«, die Lynch auch nicht mehr als alleinigen Autor haben, verwandelt das mysteriöse Grundrauschen des Realen in ein Stimmengewirr der Subjekte. Nachdem der Whodunit-Punkt der Erzählung passiert war, verlor »Twin Peaks« so rapide an Zuschauerzuspruch, dass die Serie abgesetzt wurde. Die Geschichte des nicht zu Ende geborenen Mannes war nun paradoxerweise eine nicht zu Ende erzählte Geschichte geworden.
Lynch kehrte in dem Kinofilm »Twin Peaks – Fire Walk With Me« zu ihr zurück und überforderte dabei nicht nur durch seine Erzählstruktur, prospektiv und retrospektiv zugleich, seine Gefolgschaft. In der Mitte dieses Filmes gibt es einen radikalen Stimmungswechsel; das ironische Spiel mit den Mehrfachcodierungen weicht einem nachgerade heiligen Ernst. Wir sehen einer Figur und einem Künstler zu, die zwar nicht zu Ende geboren, nicht erlöst werden konnten, aber dennoch erwachsen werden mussten. Das vollkommene Scheitern dieses Prozesses schilderte dann »Lost Highway«, eine filmische Erzählung in Form eines endlos geflochtenen Bandes, in dem sich das innere nach außen kehren und der Weg von Spaltung und Vereinigung sich um die beiden Zentren Sexualität und Mord ewig weiterbewegte. »Lost Highway« war kein überkompliziertes Spiel mit Figuren und Erzählungen, sondern viel eher ein weiterer Schritt der Entknotung. Der Held ist erwachsen, und das heißt unter vielem anderen, daß er von seiner Einsamkeit weiß. Und der Künstler David Lynch weiß, dass er in die polymorphe Welt von »Blue Velvet« nicht wird zurückkehren können. Anders gesagt: Mit »Twin Peaks« begann David Lynch sich von der postmodernen Phase seiner Arbeit zu trennen.
In »The Straight Story« löst er das Band weiter auf, es ist, scheinbar, nur noch ein einziger Faden, das letzte Stück einer Lebenslinie, in dem sich das Subjekt weder spaltet noch mehrfach codieren läßt. Dieser alte Mann, dessen Reise auf einem kleinen Mähtraktor durch einen Teil des mittleren Amerika der Film begleitet, scheint der Prototyp eines Mannes, der ist, was er ist, der tut, was er tun muss, die Wiederkehr des Cowboys. Einfacher kann auch ein Plot kaum konstruiert werden, der überdies auf eine wahre Begebenheit zurückgeht: Alvin Straight, bewundernswert verkörpert von Richard Farnsworth, dem ehemaligen Rancher, Stuntman und Schauspieler, der schon vor zwanzig Jahren alte Männer spielte, die das Ende ihres Lebens in Würde und Eigen-Sinn erleben, erfährt vom Schlaganfall seines Bruders Lyle, mit dem er sich vor zehn Jahren zerstritten hat, und weil auch er körperlich höchst dezimiert ist – seine Augen sind so schlecht, daß er keinen Führerschein mehr besitzt, seine Hüfte ist kaputt, Herz und Lunge sind krank, Diabetes beeinträchtigt ihn – macht er sich auf seinem Rasenmäher mit einem Anhänger auf den 600-Kilometer-Weg, um sich mit Lyle zu versöhnen, noch einmal mit ihm in den Sternenhimmel zu sehen, wie sie es als Kinder taten. Auf seinem Weg begegnen ihm eigenartige, doch im Wesen freundliche Menschen: eine Busladung voll Witwen auf dem Weg zur Besichtigung der »Grotto«, eine schwangere jugendliche Ausreißerin, der er den Weg zurück in die Familie nahelegt, eine Schar sportiver Biker, eine Frau, die auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit immer wieder Hirsche auf der Straße totfährt, obwohl sie die Tiere so liebt, eine freundliche Neighbourhood, in deren Vorgarten er campiert, als seine Maschine kaputtgeht, ein Weltkriegs-Veteran, der, wie er selbst, unter den Erinnerungen leidet, streitsüchtige Zwillinge – und am Ende sitzt er wirklich mit seinem Bruder vor dessen Hütte, und die beiden schauen, Tränen in den Augen, in den Sternenhimmel. Die Geschichte ist so straight und anrührend, daß der Film in den USA von Walt Disney in den Verleih genommen wurde. Schnell war man sogar bei der Hand, den Film zu feiern als das Werk eines, der, nachdem er so lange Amerika als Hort des verborgenen Grauens durchreist hatte, nun heimgekehrt war ins Land der Väter und der in dieser Reise, die voller Verweise auf seine früheren Filme steckt, eine Selbstrevision per Leitfaden der Zärtlichkeit vorgenommen hätte.
Selbst wenn man den Film auf diese Weise sieht, bleibt er verstörend schön. Jede Einstellung, jeder Übergang, jede Geste der Kamera, die ihren Helden in respektvoller Nähe begleitet und sich zugleich immer wieder in die Lüfte erhebt, wie ein Vogel, der mit seinem Helden zieht, über die Felder und die riesigen Mähdrescher darin, die kleinen Städte und bewaldeten Hügel, jeder dieser poetisch-verschobenen Dialogsätze voller biblischer, historischer, geographischer Anspielungen, die genauen Porträts, allen voran das von Sissy Spacek als Alvins Tochter, die ihre Kinder verlor und beinahe auch ihre Sprache – sind Kunstwerke im Kunstwerk. Selbst wer auf die Versprechungen der Einfachheit hereinfällt, vergisst diese Bilder nicht so leicht.
Aber schon wie Lynch uns in diese Geschichte, wie er uns in den Ort Laurens einführt, dessen Name gewiss nicht umsonst beinahe identisch ist mit der Figur des mysteriösen Toten in »Lost Highway«, nähren Zweifel an dieser beinahe parodistisch konzentrierten Einheit von Zeit, Raum und Person. Laurens ist so fremd und seltsam wie Lynchville seit eh und je, eine Kulisse der Realität, hinter der das Reale verborgen bleibt. Schon erwarten wir, daß die Kamera in den Schlund der dicken Dame fährt, mit all den üblen Süßigkeiten, die sie in sich hineinstopft, Dorothy heißt sie – ist dieser fettgepanzerte Körper, was aus der Dorothy von »Blue Velvet« wurde? Aber die Kamera geht nicht unter die Haut. Im Gegenteil, sie geht so sehr auf Distanz, dass wir den Fall, den Alvin in seiner Küche tut, nicht einmal sehen. Wir haben ihn nur gehört, und dann sehen wir Alvin da liegen. Sein Tod ist sicher. Wir bräuchten die Ausführungen des Arztes nicht mehr, kaum noch diese Lynchschen Nahaufnahmen auf das ärztliche Gerät, nicht einmal die Abschiedsgesten, den ersten Anlauf der Reise, der an der »Grotto« endet, um zu wissen: Dieser Film ist ein einziges, großes Todesbild: die Reise eines Mannes, der das Gespaltene vereinen will, ein Abschiedstraum von Vater und Tochter, ein Weg, den man, wie Alvin mehrmals betont, allein gehen muß, aber doch im Blick der anderen. So begegnet er weniger den netten Menschen von middle america als seltsamen Engeln, die ihm ein Stück dieses Weges erleichtern, jedem gibt er etwas, von jedem erhält er etwas, das ihn auf diesem Weg weiterbringt, am Ende tatsächlich über den großen Fluss, zum Mount Zion, zur Vereinigung mit dem verlorenen Bruder, zum Blick in den Sternenhimmel. Schon immer hat Lynch in seinen Filmen die Toten mit einer Zärtlichkeit angesehen, die er den Lebenden verweigern musste, waren seine Bilder am intensivsten, wo es um die Übergänge ging. Nun dehnt er den Augenblick des Sterbens auf 111 Minuten, darauf bedacht, jede davon kostbar zu machen.
Versöhnung also? Erlösung gar? Nur, wenn wir blind sein wollen. Wir werden durch diesen Film getragen wie Walter Benjamins Angelus Novus, rückwärts, mit dem Blick auf das Grauen, das wir hinterlassen, auf die furchtbaren Verletzungen des Familienromans, den Verlust der Liebe, den Krieg, in dem man so nachhaltig den Bruder ermordet hat, die ewigen Ketten der Schuld, das groteske Töten dessen, was man liebt, das Feuer, das man legte, den Zwang des Blickes auf das Böse. Und auch Amerika ist in diesem sanften, herbstlichen Blick des Engels der Geschichte keineswegs ein geheiltes Land, es ist ein Land, in dem alle einander Fremde bleiben, dessen Realität nur ein obskures Spiel der Bilder und Begriffe ist. Amerika ist in diesem Abschiedsblick nicht etwas, das verloren wird, Amerika ist etwas, das nie wurde. Man muß wahrlich blind sein, um nicht zu sehen, wie wenig Chancen zur Versöhnung diese Geschichten bieten: die von der Frau, der man die Kinder nahm, weil jemand das Feuer nicht bewahren konnte (wer es war, erfahren wir nicht, aber wir können das Schlimmste nur vermuten), die von dem Mann, der als Scharfschütze den eigenen Scout erschoß, die von der Frau, die immer wieder den Hirsch überfährt (als verzweifeltste Umkehrung des »Deerslayer«-Mythos), die von den Zwillingen, deren ganze Lebens- und Arbeitskraft in törichten Kämpfen draufgeht. Bilder der Lähmungen, Bilder der Verdammnis, Bilder von Menschen, die nicht Menschen werden können. Lynchs Film beginnt mit langen Blicken auf eine Frau, die sich vollstopft und durch eine dieser Sonnenschutzmasken blind macht, die sich obendrein mit einem Reflektor blendet und dann noch in aller Unschuld behauptet, sie habe ihren Nachbarn nicht gesehen. »Cheap laughs« meinten die amerikanischen Kritiker und Kritikerinnen zu dieser Szene, um sodann »The Straight Story« als feelgood-movie eines einstigen Rebellen zu goutieren. Konnten oder wollten sie nicht sehen, wie genau Lynch in dieser Eingangssequenz das vollgestopfte und blinde Amerika porträtierte, und wie sehr er hier schon davor warnt, »The Straight Story« als straight story misszuverstehen?
Lynchs Blick auf den Menschen, auf das Land, die Geschichte und den Mythos, ist so genau geworden, daß er den Umweg über die postmodernen Brechungen nicht mehr benötigt. Aber ohne sie hätte er nicht hierher gelangen können: zu einem Blick, der den Menschen liebt, ohne sich mit seiner Geschichte zu versöhnen. David Lynchs schönster Film ist zugleich sein grausamster. Oder umgekehrt.
Autor: Georg Seesslen
Text veröffentlicht in konkret 12/1999
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