Alpenwestern mit großem Gefühl
Mit »Die Siebtelbauern« eröffnet Stefan Ruzowitzky ein neues Kapitel in der Geschichte des Heimatfilms
In den siebziger Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine kleine Welle sogenannter »kritischer Heimatfilme«. Sie entdeckten die Provinz als soziales Schlachtfeld, und sie bedienten sich in ihren populäreren Exemplaren sowohl bei dem einzigen genuin deutschen Filmgenre, eben dem Heimatfilm, als auch beim amerikanischen und italienischen Western. Schwer trugen sie unter der Last, zugleich die korrekte politische und historische Botschaft zu vermitteln und eine unterhaltsame Kino-Dramaturgie zu entwickeln. Und nach einigen kleineren Erfolgen wie Volker Schlöndorffs Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Krumbach (1970) oder Reinhard Hauffs Mathias Kneissl (1971) und einer Reihe von Flops wie Hans W. Geissendörfers Sternsteinhof (1976) nach Ludwig Ganghofer war dieser erste Versuch, den neuen deutschen Film mit dem populären Kino zu versöhnen, auch schon wieder gescheitert. In Filmen wie Jörg Grasers Der Mond ist nur a nackerte Kugel (1980), Daheim sterben die Leut‘ (1984) von Klaus Gietinger und Leo Hiemer oder Josef Rödls Der wilde Clown (1985) gab es ein Jahrzehnt später neue Versuche, die Heimat der deutschen Provinz mit der Kamera zu erforschen. Die politische Rhetorik und der Verweis auf die Mythen des Genrekinos waren nun dezenter eingesetzt; im Vordergrund standen komplexere, leidende Charaktere in einer Welt von unbarmherziger Beharrlichkeit. Es ging um die Innenansicht geknechteter Seelen. Unterdessen aber hatte das Fernsehen die »heile Welt« der Provinz längst rekonstruiert, und beim Kinopublikum kamen komödiantische Road Movies aus deutschen Landen besser an als blutschwere Dramen aus der bäuerlichen Welt, die Josef Vilsmeier mit Herbstmilch (1988) erfolgreich wieder in den Gnadenzustand des Kitsches versetzte.
Heimat und die Fremdheit darin spielten auch im österreichischen Film der letzten Jahre eine wichtige Rolle: In Mautplatz (1994) etwa erzählt Christian Berger die Geschichte eines Bauernsohns, der sein Auskommen als Kassierer auf einer Autobahnbrücke findet, während seine Eltern an der Zerstörung ihrer Lebensweise zugrundegehen. Suzie Washington (1998) von Florian Flicker ist die Fluchtgeschichte einer russischen Frau durch die Regionen des Alpentourismus. Auch Österreich kann sehr kalt sein.
Einen ganz anderen Weg geht Stefan Ruzowitzky mit Die Siebtelbauern, den er selbst einen »Alpenwestern« nennt. Der Film führt in die Zeit vor der Industrialisierung der Landwirtschaft, als Bauer sein noch bedeutete, unumschränkter Herr zu sein, Knechte und Mägde nichts weiter als Leibeigene waren, und die Kirche die Ordnung segnete. Eines Tages ist ein Bauer tot, ermordet von einer Frau, die er einst missbrauchte, und die sich beharrlich weigert, über sich und ihre Tat zu sprechen. Statt der Kirche und der Gemeinde hinterlässt er seinen Hof seinen zehn Mägden und Knechten, nicht gerade aus altruistischen Motiven: »Hoffentlich schlagen sie sich gegenseitig tot, wenn sie drum streiten«, heißt es in seinem Testament. Sieben der zehn nehmen die Herausforderung an, die nicht nur Neid und Mißgunst hervorrufen, sondern die gesamte Ordnung der bäuerlichen Welt in Frage stellen: »Ein Knecht kann kein Bauer, ein Armer kein Reicher, eine Frau kein Mann sein«. Und deshalb wechselt auch der Großknecht (Tilo Prückner) die Fronten und stellt sich dem Großbauer Danninger (Ulrich Wildgruber) zur Verfügung, das unbotmäßige Ansinnen der Siebtelbauern zunichte zu machen, den Hof als Kollektiv zu führen. Nicht vom Knecht, der Bauer werden will (wie der »klassische« Heimatfilm), handelt der Film, sondern von den Mägden und Knechten, die eine neue Ordnung von Macht, Land und Sexualität ausprobieren. Das geht nicht ohne innere und äußere Schwierigkeiten ab; zuerst einmal müssen neue Machtansprüche verhindert, alte Rollenklischees beseitigt werden. Männer und Frauen, Junge und Alte müssen gegen die tief verankerten Regeln ihre Gleichberechtigung erkämpfen, ihre eigene Angst, ihre eigene Unwissenheit besiegen. Zunächst haben die sieben sanften Revolutionäre Erfolg; ihre neue Freiheit ist ansteckend: Mägde und Knechte erdreisten sich, ohne Erlaubnis der Bauern zu heiraten, die Besitz- und daher Rechtlosen stellen Lohnforderungen. Die kleine Utopie der Selbstbestimmung findet das blutige Ende, das der skeptische Severin (Lars Rudolph), der auch als Erzähler fungiert, vorausgesehen hat. Es ist der tatkräftige, unbekümmerte Lukas (Simon Schwarz) und seine düstere Herkunft – er ist nicht das Findelkind, sondern der Sohn der vom Bauern vergewaltigten Rosalind – der zum Anlass für den Gegenschlag der Bauern wird. Danninger, eine furchtbare Gestalt, gleichwohl fähig, vor den Bluttaten, die er im Namen der Macht und des Besitzes anstiftet, noch zu erschrecken, hetzt den Mob gegen die Rebellen. In Mord, Feuer und Vergewaltigung endet das utopische Experiment. »Vielleicht gehen wir jetzt nach Amerika«, ist die letzte, vage Hoffnung der Überlebenden. Eine Hoffnung, die nach dem Blutgericht der alten Ordnung schon keine mehr sein kann.
Die Siebtelbauern ist eine eigenwillige, erfreulich rücksichtslose Mischung aus Elementen des »kritischen Heimatfilms«, des brechtischen Lehrstücks, des Westerns und der filmischen Oper der Emotionen. »Ich siedle Menschen mit großen Gefühlen und abenteuerlichen Erlebnissen in den Bildwelten des Heimatfilms an«, sagt Ruzowitzky, »und erzähle eine Geschichte, in der sich sowohl Anklänge an Bertoluccis 1900 wie auch an Leones Spiel mir das Lied vom Tod finden«. Wo sich der kritische Heimatfilm der siebziger Jahre »klein machen« musste, um seine Botschaften keinen Moment aus den Augen zu verlieren, und wo der psychologische Heimatfilm der achtziger Jahre nur in der vollständigen Ohnmacht seiner Helden und Heldinnen ihre Würde retten konnte, da ist Ruzowitzky auch in der Wahl seiner Mittel rebellisch. Er versucht weder, authentisch zu sein (die Sprache der Protagonisten, zum Beispiel, strebt keine einheitliche Dialekt-Stimmung an), noch seine Protagonisten auf das Maß von Ideenträgern zu reduzieren. Er strebt den Kino-Effekt an, in den Augenblicken der Zärtlichkeit wie der Gewalt, in einer kräftigen Bild-Poesie (ein Elefant, der zum Retter der Siebtelbauern wird) und im unbekümmerten Pathos. Anders als seine Vorgänger, auch die österreichischen Provinzfilme der letzten Jahre, erklärt dieser Film zugleich seine historische, politische und sexuelle Wirklichkeit und die Kino-Haftigkeit ihrer Abbildung. Daher ist Die Siebtelbauern, mag man ihm seine Zitierfreude, seine Uneinheitlichkeit, sogar eine gewisse Selbstverliebtheit zum Vorwurf machen, ein wichtiger Schritt voran in der Geschichte des Dialogs zwischen Kino und Geschichte von unten.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in freitag
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