Einige der interessantesten Filme handeln von Filmen, die nicht zu Stande kommen, und einer der schönsten Filme dieser Art ist Sullivan’s Travels, den Preston Sturges 1941 drehte. Er erzählt von dem Filmregisseur John L. Sullivan (Joel McCrea), der es satt hat, den Leuten verlogene Filme über Glück und Harmonie zu liefern und lieber vom richtigen Leben erzählen will, von der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. „Significance“, Bedeutung soll das haben, was er macht. Dazu hat er schon einen Titel: „O Brother, Where Art Thou?“, jetzt braucht er nur noch die Erfahrung dazu. So macht er sich auf die Reise, das wahre Leben im „Unterleib Amerikas“ kennen zu lernen, auf den Straßen und in den Güterwaggons der Elendsrouten in der Zeit der Depression. Nach einem Fehlversuch gelingt es John L. Sullivan tatsächlich, das Elend kennen zu lernen, und zwar wesentlich gründlicher, als er das vorgehabt hat. Erst ein Hobo, dann Kettensträfling, immer ein Mann ohne soziale Identität. Irgendwann dürfen die Gefangenen einen Zeichentrickfilm sehen, sie lachen und Sullivan lacht. Lacht und wundert sich über sich selbst auch, und hat gerade gemerkt, wie die Wahrheit auch im Trost steckt, den unwahre Bilder spenden.
Preston Sturges‘ Film kreist in seiner Botschaft ungefähr so wie John Fords The Man Who Shot Liberty Valance in der seinen: Während der Film erzählt, wie jemand nach vielen schmerzlichen Erfahrungen einsieht, dass es durchaus ein ehrenwertes Unterfangen ist, die Menschen von ihrem elenden Leben durch Unterhaltung abzulenken, zeigt der Film eben dieses Elend. Während sie eine wohltätige Lüge zu rechtfertigen scheinen, erzählen diese Filme die Wahrheit. Oder wenigstens einen Teil davon.
Joel und Ethan Coen, die in Barton Fink einen Typen porträtiert haben, der es mindestens mit Sullivans anfänglicher Ignoranz aufnehmen kann, haben nun diesen Film von Sullivan oder Sturges 60 Jahre später gedreht. Oder auch nicht gedreht, denn natürlich kommen die Coens wie immer sehr rasch darauf, dass das mit der Wahrheit und mit der „Bedeutung“ so einfach nicht ist. Die Wahrheit bei ihnen ist etwas, das sich aus lauter Lügen zusammensetzt: Drei Kettensträflinge sind geflohen. Ulysses hat Pete und Delmar von einem großen Schatz erzählt, den er verborgen hat. In Wirklichkeit will er nur auf dem schnellsten Wege nach Hause, um zu verhindern, dass seine Frau einen anderen Mann heiratet. Aber noch wichtiger ist ihm, sich stets mit genügend Haarpomade der Marke Dapper Dan versorgt zu wissen. Unterwegs begegnen die drei einem blutrünstigen Sheriff, einem schwarzen Gitarristen, der gerade aus musikalischen Gründen seine Seele dem Teufel verkauft hat wie weiland Robert Johnson, einem blinden Radiochef, in dessen Studio sie eine Platte unter dem Namen Soggy Bottom Boys aufnehmen („I’m a man of constant sorrow“), die sich rasch, aber ohne ihr Wissen zum Hit entwickelt, drei schönen aber wenig wohlmeinenden Wäscherinnen oder Sirenen, die Pete vielleicht in einen Frosch verwandelt haben, einem einäugigen Bibelverkäufer, der sie mit einem Ast niederschlägt und ihr Geld klaut, zwei Kandidaten um den Gouverneursposten, die in ihren Mitteln nicht besonders wählerisch sind, dem Ku-Klux-Klan, dessen Kapuzenmänner den Gitarristen der Soggy Bottom Boys lynchen wollen, dem irren Gangster Baby Face Nelson und noch einigen interessanten Charakteren von möglicherweise mehrfacher „Bedeutung“.
Die Wahrheit, die Sullivan gerade deswegen verfehlen musste, weil er bis zum Hals darin steckte, ist eine Mischung aus einer Depressionskomödie, einer Chain-Gang-Saga, einem Musical, das von der Geburt der Popmusik aus dem Geist des Elends handelt. Und weil das alles nicht genug ist, haben die Coen Brothers auch noch die Chuzpe besessen, in den weniger als zwei Stunden ihres Films zusätzlich die Homersche Odyssee zu erzählen. Das ist an der Oberfläche eine reichlich frivole Angelegenheit, aber je genauer man den Film ansieht, desto mehr stimmt diese Übertragung: Amerika in den dreißiger Jahren – ein Land, das erst durch seine Erzählung entsteht; die mündliche Überlieferung des Gesangs, in den homerischen Versen und in denen der Hillbilly- und Bluegrass-Musik, von der die Coens ganz nebenbei erklären, wie stark ihr schwarzer Anteil ist. Und bevor man noch tiefer in den Kosmos von Coen-Country eintaucht, den windungsreichen Text dieses Films auch mit Kafka oder Freud liest, wenn einem danach zu Mute ist, kann man schlussendlich begreifen, dass man einen Film über den Zusammenhang zwischen der Blindheit und dem Gesang gesehen hat. Und vielleicht sogar darüber, was dies mit der Art von politischer Macht zu tun hat, die ihre Struktur seit der Depressionszeit nicht sonderlich geändert hat. Die dicken, alten, korrupten und korrumpierenden Männer gewinnen immer in Coen-Country.
Ein richtig schöner neuer Coen-Film also, nach denen man ja, wie man nach sieben Stück davon weiß, süchtig werden kann, unter anderem, weil sie die Kino-Bilder und die Erzählung in Bildern so sehr befreit haben wie, sagen wir, Picasso den Blick auf ein Tafelbild. Zumal befördert durch zwei ziemlich radikale künstlerische Entscheidungen: Bei O Brother, Where Art Thou? entstand die Musik vor dem (endgültigen) Drehbuch, so dass der Plot gleichsam dienende Funktion erhält, diese Musik aber ist zugleich immer on scene, sie kommt nicht aus dem erlösenden Jenseits des Pop-Himmels, sondern wird immer von denen gemacht, die gleichzeitig ihre Geschichte erleben. Und dieser Coen-Film ist am radikalsten „gemalt“. Die Farben wurden nach den Aufnahmen digital bestimmt. Unter anderem gibt es die Farbe grün ganz einfach nicht. Was insofern noch einmal ein Witz ist, weil Mississippi in der Sommerzeit, in der der Film spielt, so ziemlich das grünste Land ist, das man sich vorstellen kann. Es ist ein Coen-Süden, so falsch gemalt, wie Picasso falsch gemalt hat.
Trotzdem fehlt in O Brother, Where Art Thou? ein bisschen etwas von dem, was die letzten Coen-Filme so schön gemacht hat. Das erklärt sich nicht nur dadurch, dass er dem leicht hysterischen Raising Arizona so viel näher ist als etwa The Big Lebowski. Diese wunderschönen, beunruhigenden Momente in Coen-Filmen, in denen man nicht weiß, ob man heulen oder lachen soll, in denen man nicht weiß, ob man einer hübschen Alberei oder einem profunden Verstoß gegen ästhetische und mythische Codes zugesehen hat, in denen man nicht weiß, ob man gerade das unverschämteste Stück Kunst oder das genaueste Stück Leben mitbekommen hat – diese magischen Coen-Momente sind diesmal vergleichsweise rar. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir den drei blinden Mäusen in der Erzählmaschine diesmal vor allem von außen zusehen, wie sie von Apathie zu Hysterie eilen, von Feuer zu Wasser und von Vision zu Enttäuschung, dass wir die Erzählmaschine der Coens mittlerweile auch schon durchschaut haben. Die Verrücktheiten, die zwischen der Story und ihren möglichen Autoren geschehen – einen alten Mann etwa, der mit einem Uhrwerk auch eine Geschichte aufhalten kann – gibt es diesmal ebenso wenig wie diese Momente der melancholischen Ruhe, die gelegentlich über die Protagonisten in Coen-Country kommen kann. In O Brother, Where Art Thou? ist die intellektuelle Erzählmaschine der Coen-Brüder ein wenig heiß gelaufen. Das Ergebnis sieht aus wie eine liebenswerte Parodie auf einen Coen-Film.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
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