Es gibt Filme, die von der Stringenz des Dramas leben, das sie entwickeln, und es gibt solche, die eher durch das visuelle Konzept, durch ihre Bildwelt wirken. Ein Glücksfall für das populäre Kino ist es, wenn, wie in Ridley Scotts BLADE RUNNER, eines exakt dem anderen entspricht; Pech haben wir indes, wenn das eine das Nichtfunktionieren des anderen nur unterstreichen kann. In NOSTRADAMUS strebt man bei beidem zunächst ein vergleichsweise hohes Niveau an, was nicht verwundert, wenn man auf die Namen der Beteiligten achtet. Regisseur Roger Christian wurde als Co-Ausstatter von STAR WARS und ALIEN mit dem Oscar ausgezeichnet. Weder ein mittelalterlicher Abenteuerfilm um den seltsamen Propheten sollte es werden, noch eine New-Age-Fantasy und schon gar kein Filmfutter für die Leser astrologischer Spökenkieker-Zeitschriften. Aber was dann konnte aus dem Stoff werden?
Man tut sich ein wenig schwer, zugleich auf die reichlich verwirrende Konstruktion der Dramaturgie, ein Geflecht verschiedener Zeit- und Handlungsebenen, von verschiedenen Zuständen des Realen, Fiktiven und des Visionären zu achten (jedenfalls so lange, bis man es aufgibt, die aufeinanderfolgenden Episoden im Sinne eines geschlossenen dramaturgischen Konstrukts zu sehen), und sich in einer zunächst ansprechenden, eher düster kammerspielartigen als panoramahaften Bildwelt einzurichten, die dann doch viel zu wenig Pracht entfaltet, zu wenig Ambiguität besitzt, um uns nicht wieder auf den Plot zurückzuverweisen. Der Film ist zu sehr verliebt in seine beinahe durchgehend finstere Stimmung, um seine Bilder dramatisch einzusetzen; bis zum Ende hin gibt es nur einen gleichförmigen Erzählfluß, in dem die Katastrophe sozusagen zum Normalfall geworden ist, weil wir uns an das gewöhnen, was Nostradamus selbst dann irgendwann bemerkenswert schlicht konstatiert: Es passiert immer das Schlimmste. Bevor der Film aber nun zu zwei halbwegs unterhaltenden Lehrstunden über die Schwierigkeiten wird, motion und picture cineastisch miteinander zu vereinen, hat er uns auch noch dieses oder jenes zu sagen. Aber was?
Es beginnt schon mit dem Weltuntergang. Ein nebelverhangener Ort, der ebenso die Skyline einer modernen Stadt wie eine mittelalterliche Befestigung darstellen könnte, versinkt in einer Wasserflut. Ein Junge erwacht schweißgebadet; er hat einen Alptraum gehabt. Es ist Mittelalter, und draußen herrscht die Inquisition; eine Frau wird verbrannt. Der Großvater erklärte dem Jungen, dass er ein getaufter Jude sei. Wieder erwacht Michel, nun ein erwachsener Mann, aus einem Alptraum. Er ist angehender Mediziner, der mit den herkömmlichen Methoden nicht einverstanden ist. Kaum hat er seine Einwände formuliert, stirbt der alte Professor an der Pest, die sich schnell in der Stadt verbreitet. In dem Chaos, das nun entsteht, wird Michel zu einem von den alten Kräften gehassten Retter, der die Chancen der Selbstheilung des Körpers mobilisieren will. Dafür wird er verhaftet, vor Gericht gestellt und entkommt, weil er auch seine Ankläger rettet. Die Bilderstürme brechen los; die Zerstörung der Kathedralen war nicht, was er im Sinne hatte. Er erhält einen Schlag auf den Kopf; dann sieht er Kinder, fremd und verzweifelt, in den Trümmern stehen; die Kamera schwenkt auf ihr Schuhwerk: aus dem Mittelalter sind die nicht.
Bei einem noblem Wissenschaftler auf einem Landsitz findet Nostradamus Freude beim Umgang mit dem Wissen aus den verbotenen Büchern und Liebes- und Familienglück, bis die Inquisition wieder zugreift. Die eigene Frau und seine Kinder sterben, während er das Land von der Pest befreien will, er selbst flieht. Der Holzwagen rollt über das Land, und plötzlich sieht Michel de Nostrade draußen Visionen des modernen Krieges: ein Bombenangriff, sterbende Soldaten, Panzer der deutschen Wehrmacht. Er gerät in die Hölle der Geißler, hat wieder Visionen des Krieges, findet ein neues Zuhause, schreibt seine Prophezeiungen nieder, und als er den Tod des Königs voraussagt, greift er mit seiner Gabe direkt in die Politik ein, wird vielleicht sogar ihr willfähriges Opfer. Die Königin rettet ihn vor dem Tod in den Folterkammern der Inquisition. In einer letzten Vision sieht er Adolf Hitler, Bomberflüge gegen England, John F. Kennedy, hungernde Kinder in Afrika, Saddam Hussein, brennende Ölfelder. Aber er hat auch das Paradies gesehen; er sieht Raumschiffe majestätisch in die Weite des Alls schweben: „Man can survive!“ behauptet er trotzig, und ein Schlußtitel sagt: „There is still time to understand his words.“
Nun ja. Was in der kurzen Zusammenfassung und bei diesem Ende eher peinlich oder unfreiwillig komisch klingt, birgt in der Realisation des übrigens mächtig langen Films durchaus ein paar Ansätze für Diskurse: Ist der Aufklärer selbst verdammt, der Realpolitik das Material zum Fortbestehen der Macht zu liefern? Sind Pest und Inquisition (und was sich aus beidem in der Nachfolge entwickelt haben mag) tatsächlich zwei Seiten ein und derselben Sache? Müssen auf ewig Liebe und Geschichte aneinander scheitern? Auf die Paradoxien, die durch die Vorhersagbarkeit der Zukunft entstehen müssen, geht der Film im übrigen nur einmal kurz ein, nämlich als der durch den König vergiftete Nostradamus weiß, dass er noch nicht sterben muss. Über seine Rettung vor den Schergen der Inquisition am Ende scheint er aber dann doch wieder dankbar überrascht.
Das Beste, was man über diesen Film sagen kann, ist, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können. Er scheitert an seinem seltsamen Thema mit einer gewissen Würde, und das ist schon etwas. Was aber vielleicht eine cineastische Archäologie des Wissens hätte werden können, wird nur zum Drama des Mannes, der aus seiner Zeit fällt, und aus einer strukturellen Untersuchung über das Scheitern der Aufklärung wird ein geheimnisloses Schwanken zwischen Melodram und Schulfunk. Es ist so etwas wie ein historisches Drama mit bizarren Störungen entstanden. Und doch hätte man immer noch die Tapferkeit bewundern können, ein solch exotisches Motiv vollständig ernst zu nehmen. Aber dazu sind die Schnittfolgen zu bieder, die Zwischenschnitte wie bei einem Fernsehfeature gesetzt, dazu sind die Bauten allzu sehr auf Evidenz plus Stimmung getrimmt, öffnen sich zuwenig Räume und Nebenbedeutungen, dazu sind die Schauspieler zu hölzern, und zu sehr sind die Hauptepisoden gestaltet wie Akte eines Theaterstücks, bei denen die Akt-Zäsuren durch einen Schlag auf den Kopf des Hauptdarstellers oder durch ein erschrecktes Aufwachen überbrückt werden. Wahrscheinlich hat man sich bei diesem Film viel gedacht; er sieht aus, als hätte jemand mit vierzig Grad Fieber ein Ideendrama schreiben wollen. Kino ist es trotzdem nicht geworden.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 9/94
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