Die Schwäche der Isolation
Eine Regisseurin und vier Regisseure haben einen Episodenfilm zur Lage der Nation gedreht (»Neues Deutschland«). Herausgekommen ist ein moralischer Appell, der sich nicht traut, politisch zu sein
Früher war natürlich alles besser, der deutsche Film sowieso. Damals drehte man Deutschland im Herbst zur Lage der Nation, und darin gab es die unerbittliche Selbstentäußerung von Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluges radikale analytische Biografie. 1977, nach Schleyers Ermordung, der Entführung der Lufthansamaschine nach Mogadischu und dem Tod der RAF-Gefangenen in Stammheim herrschte eine Stimmung von Pogrom und Gewalt. Innerhalb kurzer Zeit wurde der Film gedreht, von Rudolf Augstein finanziert und vom Filmverlag der Autoren produziert. Und doch kam er, nach allfälligen Schwierigkeiten, erst ein halbes Jahr später, im Februar 1978, in die Kinos. Das war eine Schlappe.
Nun gibt es wieder ein solches Gemeinschaftswerk, das gar nicht anders kann, als neben dem »Thema« auch Wesen und Wirkung des deutschen Films darzustellen. Es haben sich eine Regisseurin und vier Regisseure zusammengetan, um einen solchen filmischen Bericht zur Lage zu verfassen, bewusst in der Tradition von Deutschland im Herbst. Der Vergleich wird uns aufgedrängt und fällt entsprechend leicht unfair aus.
Was zunächst zu spüren ist, das ist zugleich der Gestus und die Macht des Fernsehens. Deutschland im Herbst wäre damals von keinem deutschen Fernsehsender ins Programm genommen worden, Neues Deutschland ist eine Fernsehproduktion und, etwa im NDR, bereits auch über den Sender gegangen. Die Idee wurde in der Fernsehspielredaktion des Westdeutschen Rundfunks geboren; im November 1992 entwickelte der Redakteur Gebhard Henke das Projekt, und diesmal verging das halbe Jahr wirklich mit der Herstellung. Das wird als ungeheure Schnelligkeit gefeiert.
Die Voraussetzung des Projekts ist einfach, eine Warnung, ein Aufschrei. »Die Republik ist dabei, ihre demokratischen Tugenden einzubüßen und vor dem Terror zu kapitulieren«, heißt es als Fazit. Welche demokratischen Tugenden?
Sehr leichthändig, selbstironisch und doch genau erzählt Dani Levy in seinem Beitrag Ohne mich von sich selbst als jüdischem Filmemacher in Deutschland. Larmoyanz und Selbstmitleid wirft ihm die Freundin vor. Seine Welt verengt sich zum desolaten Ambiente eines New Wave-Thrillers; die Angst ist so groß, dass keine Geschichte, keine Zusammenhänge mehr erkannt werden können. Die Frage, ob sie unbegründet ist oder nicht, beginnt zu rotieren, sie macht den Helden komisch und macht uns zugleich erschauern über die Ignoranz ringsumher. Nachts joggt Simon Rosenthal durch die Stadt, als übe er das Davonlaufen; mit der Fernbedienung eilt er durch die Programme und findet nirgendwo Halt; sein Alltag ist die ständige Selbstverleugnung: Dem faschistischen Nebenmieter verschweigt er den jüdischen Namen und tut sich schwer mit der Solidarisierung gegen einen jüdischen Miethai. Die Mutter ruft unentwegt an und fordert ihn auf, das Land zu verlassen, so lange es noch geht. In der U-Bahn von Skinheads angepöbelt, antwortet er auf die Frage, ob er Jude sei, »Nein, ich bin Deutscher«, und als sie ihn »nach Auschwitz bringen« wollen, antwortet er: »Auschwitz war doch ’ne Lüge.« Die Flucht ist nur noch auf den Mond möglich; von da aus ruft er seiner Mutter zu, daß er endlich in sicherer Entfernung von Deutschland sei.
Philipp Gröning lässt in Opfer. Zeugen zwei Magdeburger Punks berichten, die mit Mühe und Glück einem Mordanschlag der Skinheads entkommen sind. Er macht es uns dabei nicht leicht, unterstreicht die stockende Erzählweise, die Retardierungen noch durch einen extremen Schnittrhythmus, und auf den Rolltexten sind die nazistischen Gewalttaten der letzten Zeit zu lesen oder manchmal nicht zu lesen.
Was wir von den Zeugen erfahren, ist das nackte Grauen: man will immer nur noch mehr Gewalt, verlangt nach Arbeitslager und Todesstrafe, entkommt der klammheimlichen Faszination durch den wilden Faschismus nur in Phantasien von einem »ordentlichen« Großfaschismus. Hitler hätte mit den Skinheads schon aufgeräumt.
Maris Pfeiffer schildert in Ein Ort – ein Selbstmord die Geschichte eines seit einem Unfall behinderten Mannes in einer deutschen Gemeinde, genau gesagt in Großburgwedel, 10.000 Einwohner, etwa 20 Kilometer nördlich von Hannover, der schließlich am Leben verzweifelt und das faschistische Diktum, so jemanden wie ihn hätte man unter Hitler vergast, selber annimmt und sich umbringt. Auch hier wird nur zu deutlich, daß die militanteren Jugendlichen, die ihn anpöbeln und bespucken, nur die Avantgarde des gesunden Volksempfindens der Mehrheit sind.
Die Gnadenlosigkeit des Ortes kommt eher im Nebenhinein zum Vorschein; auf den bunten Bildern der sozialen Rituale, zu denen allemal heitere Miene gemacht werden muss, in der Ordentlichkeit und Sauberkeit, in der Rede des Lokalpolitikers, der perfekt die Umdeutung von »Betroffenheit« in Propaganda beherrscht. Das ist ein Film auch darüber, wie die Super-8-Kamera zu einer Maschine wird, die für sich und aus sich heraus die Lügen produziert.
Einen fast vergnüglichen Beitrag hat Gerd Kroske mit Kurzschluss gedreht. Er verknüpft die Mikrofonausfälle bei Helmut Kohls Rede in Leipzig mit der Geschichte eines kleinen Attentäters, eines Bühnentechnikers der Oper, der in den Katakomben und im altmodischen Gekabele dem dicken verlogenen Mann dort oben den Saft abstellt, während man auf dem Platz »Rote raus!« skandiert und Plakate schwenkt, auf denen Honecker in Sträflingskleidern zu sehen ist. Dafür, so die Noch-Volkspolizisten, hätte man die friedliche Revolution nicht gemacht. Dafür nicht. Lange dauert es nicht, und die begeisterten »Helmut, Helmut«-Rufe sind verklungen. Jetzt trägt man Plakate, auf denen Kohl Sträflingskleider trägt und hat längst neben ihm die Ausländer als die Ursache allen Übels erkannt. Jetzt ist das Jahr 1993. Unser Held, immerhin, ist wieder frei. Aber wozu?
Bei diesem Film bildet sich nicht nur eine absurde kleine Hoffnung des Widerstands (und zerfällt wieder), sondern auch eine schöne Metapher dieses neuen Deutschland, das sich nur oben ändert, aber in seinen Kellern immer noch das alte bleiben muß. Selbst das gemächliche Tempo der Leute, die nach der Ursache für den Schaden suchen, verweist noch auf die Kräfte der Beharrung. Die Flucht gelingt auch in Frauenkleidern und über das Theater nicht; der dicke Mann da oben ist der bessere Schmierenkomödiant.
Uwe Janson schließlich erzählt in seinem Film Heilige Kühe (eine Filmversion des gleichnamigen Theaterstücks von Oliver Czeslik) von einem Dokumentarfilmer, der eine alptraumhafte Zugfahrt mit einem Nazi-Paar macht, das ihn zum Opfer sehr gemeiner Spiele mit faschistischen Schlüsselbildern erkoren hat. Man spielt Krieg, Folter, Volksgerichtshof. Seine Kamera wird in den Dienst ihrer Selbstinszenierung gestellt; am Ende, als man ihn aus dem Zug geworfen hat, zerstört er sie. Das ist, in der Fassung, die ich gesehen habe, das letzte Bild des Films und beschreibt seine eigentliche innere Bewegung: Die Angst vor der Wirklichkeit ist in einer noch größeren Angst davor ausgedrückt, die falschen Bilder von ihr zu produzieren. Und jeder der Filme scheint nicht nur zu wissen, sondern flehentlich dem Zuschauer anzutragen, dass es richtige Bilder eigentlich gar nicht geben kann. Man nimmt diesen Filmemachern einen persönlichen Mut, die harte Arbeit bei der Bestimmung der ästhetischen Methode durchaus ab, aber zur gleichen Zeit erkennt man die Hilflosigkeit dieser cineastischen Gesten, spürt man bis in die Haarspitzen die Grenzen selbst noch des Zorns, selbst noch der Melancholie, vom härteren analytischen und poetischen Zugriff ganz zu schweigen.
Das eigentliche Thema dieses Episodenfilms ist weniger die rechte Gefahr selbst als die bizarre Lähmung, in die man als Reaktion darauf gefallen zu sein scheint. So wie der Filmemacher in Ohne mich im Teufelskreis seiner eigenen Angst sich verliert und in Heilige Kühe zum unfreiwilligen Mittäter wird, der auf Finten und Machinationen hereinfällt, so beschreiben auch die anderen Filme vor allem die Ohnmacht der Opfer und die Unbeschreiblichkeit des »Wirklichen«, den heillosen Umstand, dass, bevor der Filmemacher an die äußeren Grenzen stoßen kann, er schon an seinen inneren gescheitert ist.
Maris Pfeiffer nennt die Frage, auf die alles hinausläuft: »Was Faschismus ist, wo er beginnt und wie er sich ausdrückt«. Die Suche nach dem neuen Faschismus im Land ist noch ziellos, und die tiefste Beunruhigung, die von dem Film ausgeht, entsteht aus der Erwägung, wie sich feststellen ließe, ob wir nicht sehen können oder nicht sehen wollen, was geschieht. Das Allgemeine im Besonderen auszumachen müssen sich Filme verweigern, die sich nicht zu einem Film gegen Deutschland zusammenfügen wollen (den allerdings sähe ich gerne!), sondern im Gegenteil im Verlust etwas Verlorenes rekonstruieren. Als wäre vorher alles viel besser gewesen, und als wäre das über Nacht ins Land gekommen!
Der Gestus von Anklage und Selbstentäußerung à la Deutschland im Herbst ist heute gewiß kaum denkbar, nicht nur, weil die Filmproduktion im Jahr 1993 unter einer perfekten gesellschaftlichen Kontrolle vonstatten geht. Man kann sich nicht mehr erlauben, einen Fehler zu machen. Das kostet die Karriere oder das Leben; man gerät in ein seltsames Splitten. Fast alle Filme sind von relativ heftigen Perspektivwechseln und Stilbrüchen charakterisiert. Aber nicht dialektische Verknüpfung, sondern eine Flucht ins Sowohl-als-auch entsteht da, eine moralische Reaktion, die sich nicht traut, auch eine politische zu sein. In dem Bemühen, es sich nicht einfach zu machen, entstehen Bewusstsein und Flucht. Als wäre die einzige Chance, ganz und gar einzeln zu sein. Aber auch dem ästhetischen und politischen Ich wird gründlich misstraut; immer scheint sich der Filmemacher ironisieren, zurücknehmen, hinter der »Überlegung« verstecken zu müssen. Diese Haltung kommt schon in der Anlage des Gesamt-Films hervor; die fünf Einzelbeiträge scheinen nichts gemeinsam haben zu wollen, noch bei der Suche nach einer Strategie des Leidens finden sie kein gemeinsames Ziel und keine gemeinsame Sprache. Was einmal die Stärke der Vielfalt war, ist nun die Schwäche der Isolation.
So wird man jeden einzelnen Beitrag heftig gegen die törichten Vergleiche mit Fassbinder und Kluge verteidigen können, schon gar gegen die feuilletonistischen Gerontokraten, man wird die schiere Existenz des Films als Beweis dafür nehmen, dass der deutsche Film irgendwie lebt und sich der einen oder anderen Herausforderung stellt, und man wird nicht leugnen, dass sich die einzelnen Filmemacher ziemlich genau überlegt haben, was sie machen müssen, um nicht in die überall aufgestellten Fallen zu tappen. Es ist keine cineastische Lichterkette entstanden. Und doch ist Neues Deutschland als ganzes symptomatisch für die Situation eines Mediums, das sich strukturell hat die Aggressivität abtrainieren lassen. Nicht daß es ein nennenswertes Publikum für einen anderen Film gäbe. Bei der sowieso nicht überwältigend gut besuchten Uraufführung während des Münchner Filmfestivals verließ ein Gutteil des Publikums bei den etwas heftigeren Szenen von Jansons Heilige Kühe fluchtartig das Kino. Nicht einmal das halten sie aus!
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Konkret 08/1993
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