Mit Romeo und Julia (1996) hat der australische Regisseur Baz Luhrmann Shakespeare bei Teenagern populär gemacht, sein vorausgegangener Tanzfilm Strictly Ballroom (1991) war noch eher eine Talentprobe für Kenner. In seinem neuen, erst dritten Film in zehn Jahren, mit dem in diesem Jahr das Festival von Cannes eröffnet wurde, zieht er nun alle Register.
Zwei Dinge kann man dem Filmemacher Baz Luhrmann bestimmt nicht nachsagen: Inszenatorische Zurückhaltung und Pingeligkeit in Sachen geistigen Eigentums. In der Regel nimmt er sich etwas vor wie, sagen wir, William Shakespeares „Romeo und Julia“, und setzt es einer brachialen cineastischen Überwältigung aus. Man mag zuerst einmal vom Respektlosen, von der Anmaßung, von der schieren filmischen Gewalt fasziniert sein. Was wollen wir schließlich im Kino, wenn es nicht um Befreiung geht. Aber irgendwann kommt in Luhrmanns Filmen immer der Augenblick, wo man sich fragt, wozu diese ganze Kino-Kraftmeierei denn gut sei, und ob der Kerl da oben seine postmodernistischen Befreiungsschläge nicht auf unsere Kosten ausführt.
Moulin Rouge treibt den cineastischen Luhrmann-Wahnsinn noch einen Schritt weiter. Das Überwältigende ist noch überwältigender geworden und das Sinnlose noch sinnloser. Aber vielleicht kann man ja auch so etwas wie reines Kino genießen, Kino, das nichts anderes als sich selbst will, das von nichts „handelt“ als von sich selbst und an nichts anderes denkt als an das nächste Bild, den nächsten Regieeinfall, den nächsten Effekt, das nächste Zitat, das nächste Dekor. Doch eine solche Überbietungsstrategie, da hätte sich Luhrmann vielleicht einmal etwas näher mit Musik beschäftigen sollen, funktioniert auch kompositorisch nicht. Wenn man mit allem anfängt, gibt es kein Steigerung mehr; wenn man Motive nicht konstruiert, variiert, verzweigt oder analysiert, bleibt nur die Wiederholung, und ein Zitat ist nur so gut wie das, was man mit ihm anfängt. Deshalb hat Moulin Rouge den vermutlich tollsten Trailer dieses Kinojahres. Das sieht man und ist hin und weg. Aber der Film selbst ist dann nichts anderes als eine sehr, sehr lange Variante eines Trailers für einen Film, der leider nie gedreht worden ist.
Dabei steht Moulin Rouge in einer Traditionslinie von Wahnsinnsfilmen. John Hustons Moulin Rouge von 1953 ist ein wahnsinniges, rücksichtsloses Künstler-Melodrama, und über Jean Renoirs French Cancan (1955) schrieb François Truffaut: „Das panische Fieber des Cancan saugt am Ende den ganzen Film in sich auf.“ Pures Schaffen, pures Leiden, pure Form bei Huston, pure Bewegung, pure Lust, pures Fließen bei Renoir. Was bleibt einem Film zum Thema da noch zu sagen? Baz Luhrmann will ein Moulin Rouge für die Kinder von MTV und Ecstasy. Fragt sich nur: wozu?
Zuerst erzählt Luhrmann ein Bohème-Melodrama. Im Moulin Rouge des Jahres 1899 ist die schöne gefeierte Sängerin Satine (Nicole Kidman) drauf und dran, sich mit dem nicht so schönen, aber reichen Duke (Richard Roxburgh) einzulassen, als der arme schöne englische Dichter Christian (Ewan McGregor) ihr Herz betört. Er schreibt, unterstützt unter anderem von Henri de Toulouse-Lautrec (John Leguizamo) und Eric Satie (Matthew Whittet) ein Stück über einen armen Sitar-Spieler, die Tänzerin und den Maharadscha, und das ist nicht zuletzt eine Bühne, auf der sich die Liebe zwischen Christian und Satine vor den Augen des eifersüchtigen Duke offenbart. Das hört sich aber raffinierter an als es ist. Jedenfalls: Das kann nicht gut ausgehen, einerseits weil der Duke den Impressario und damit auch Satine erpressen kann, denn er hat sich das Moulin Rouge selbst als Pfand angeeignet, und andererseits, weil bei Satine die tödliche Tuberkulose ausbricht, und zum letzten, weil der Duke seinen Diener mit dem Mord an Christian beauftragt hat.
Auf der zweiten Ebene ist Moulin Rouge ein Ausstattungsstück. Modelle und Computeranimation treffen sich in der Konstruktion eines beeindruckend supersynthetischen Traumreichs, rund um einen gewaltigen Elefanten, in dessen Inneren sich die Liebes- und Verwechslungsszenen mal à la Boulevardtheater (Tür auf, Tür zu), mal nach Slapstickmanier abspielen dürfen, immer aber in einer Art Rauschzustand von Farbe, Form und Bewegung. Was das anbelangt, ist Luhrmanns Film sicher ein kleines Meisterstück. Wie man eine solche Dekoration mit Bewegung füllt, selbst in Bewegung setzt, in Bewegung darstellt, das macht ihm so schnell keiner nach, und das fesselt für geraume Zeit. Immer neue Kostüme in verblüffendem Wechsel, Kamerabewegungen, die man schnell durchschaut und die einen dann doch immer wieder überrumpeln, immer neue Choreografien, die das gewohnte Raumempfinden sprengen. Davon kann man wirklich ziemlich high werden.
Doch zum dritten ist Moulin Rouge auch ein Musical, und da verfängt sich der Regisseur und Drehbuchautor in seinen selbst gelegten Fallen. Denn auch das Musical ist so fake wie alles andere, und das ergibt eine fatale doppelte Verneinung. Es ist nicht um eine eigene Komposition, sondern um ein Endlos-Meadley von Pop-Songs errichtet, die schon alle mehr oder weniger zu Tode gehört und zitiert wurden. Mit ihren Abschlussball-Versionen von „Diamonds are a Girl’s Best Friends“ oder „Heroes“ lässt Luhrmann seine Darsteller bedenkenlos ins Vergleichsmesser laufen. Das Spiel mit der Wiedererkennung der Melodien und des frivolen Gebrauchs der Lyrics (Ewan McGregor spricht überhaupt vorwiegend in Popsong-Zeilen) macht zwei-, dreimal Spaß, dann beginnt diese verbrauchte Akustiksauce zu nerven, so wie wir auch mit der Zeit das Interesse daran verlieren, die Zitate des melodramatischen Plots zu sortieren.
Zum anderen aber hat der Regisseur offensichtlich bewusst Schauspieler eingesetzt, die weder singen noch tanzen können. Ich meine: Natürlich können sie es, das lernt man ja im Schauspielunterricht, aber sie müssen es nicht, es ist nicht ihr Wesen. Und von hier aus rubbelt sich das ganze bunte Textil des Films wieder auf wie ein falsch gestricktes Deckchen: Die Kamera muss vielleicht nur so entfesselt herumrasen, um vom Mangel an Bewegungstalent und an Bewegungsleidenschaft der Stars abzulenken, die Atemlosigkeit der Auflösung muss darüber hinweghelfen, dass den Stimmen der Atem fehlt, und die Dekorationen müssen die Gefühle ausdrücken, die weder das Drehbuch noch die mise en scene aus den Figuren herausholen kann.
Das klassische Filmmusical, wo es so gut war wie bei Vincente Minnelli, entwickelte sich von Bild zu Bild zu einem „Mehr“, in einem Überfließen des Inneren nach außen und zurück: das Gefühl, das sich in Bewegung umsetzt, die Bewegung, die sich in Raum umsetzt, der Raum, der sich in Farben umsetzt, die Farbe, die sich in Gefühl umsetzt. Hier ist dagegen eines vor das andere geschoben, eines verweist immer nur auf die Abwesenheit des anderen, jedes maskiert Leere. Der Film nimmt das Melodrama nicht ernst, er nimmt die Kunst der Ausstattung nicht ernst, er nimmt die Musik nicht ernst, aber er nimmt auch das Nicht-ernst-Nehmen nicht ernst. Daher bleiben schließlich das Fake-Melodrama und das Fake-Musical einander fremd. Je länger der Film dauert, desto fremder werden sie sich, und desto mehr guckt man sich nicht mehr einen Film, sondern nur noch handwerkliche Details an. Das ist ja auch nicht schlecht. 127 Minuten und 43 Sekunden lang kann man einiges übers Filmemachen lernen. Oder man schaut einer Bilder- und Musik-Maschine dabei zu, wie sie sich selbst kaputtmacht.
Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film 10/2001
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