»Wichtig war, etwas zu tun«
Versuch, zu verstehen, warum das deutsche Fernsehen einen Film über den jüdischen Widerstand gegen den Faschismus nicht senden kann
Schön ist, dass ein solcher Film entstehen kann, ein Film gegen den Mythos der Zeit, gegen die Phantasie vom Opfertod der Juden, in einer Zeit vor der Zeit, so entfernt aus der Geschichte, dass alles schon gar nicht mehr wahr sein soll, nur eine Metapher noch, ein Stück Nebenreligion. Ein Film, der wieder Geschichte einfordert, der auf der Konkretheit von Trauer und Schuld besteht. Ein Film, der Menschen zu Wort kommen läßt, wenigstens das. Ein Film, der Nelly Sachs‘ Gedicht fortsetzt, das als Motto das erste Bild von »Mir zeynen do!« füllt, und in dem es vom Cherub heißt:
Seine Hände aber halten
die Felsen auseinander
Von Gestern und Morgen
Wie die Ränder einer Wunde
die offen bleiben soll
Die noch nicht heilen darf
Schöner wäre, wenn dieser Film die Menschen dieser Republik erreichte, auch jene, die abends um halb neun in der Wohnküche von nationaldummer Fröhlichkeit auf dem Bildschirm sich die stumpfen Gemüter ausfackeln lassen.
Am schönsten wäre, wenn es auch zu diesem Film das Gespräch geben könnte, zum Beispiel jene Fragen betreffend, wie sich das Filmen zu Menschen und zur Geschichte verhält, was ein Bild aus einem Leben macht, und wie der Autor in seiner Montage wirkt.
Aber so sind die Zeiten nicht. Statt dessen haben wir ein Fernsehen, in dem es in diesem Jahr statistisch gesehen nur zwölf Tage gibt, an denen keine »Volksmusik« gesendet wird, das sich aber einen Film über den jüdischen Widerstand gegen den Faschismus nicht einmal in Nachtzeiten zumuten will. Einen Film nebenbei, der sich in strenger Gliederung den Regeln des klassischen Interviewfilms fügt, darin aber einen sehr eigenen Rhythmus findet, einen Film, den man eher zu gut als zu wenig verstehen könnte, und vielleicht ist dies schon der Skandal, vielleicht macht dies schon den Film unsendbar, dass er sich den erzählenden Personen unterordnet, daß er sie liebt, dass er die Macht des Mediums nicht ausstellt, dass er sich Zeit nimmt.
Zweifellos ist es bereits das Thema, das die Medienmacht verschreckt. Vielleicht aber geht die Verstörung noch ein wenig tiefer, vielleicht wird hier nicht nur gegen die Regeln unserer Geschichtsauffassung, unserer medialen Geschichtsvernichtung, gegen unsere aktuelle Mythologie verstoßen, sondern auch gegen Konventionen der Wahrnehmung selbst, die sie umfassen, dagegen, wie wir uns von der Wirklichkeit noch zu sprechen gestatten.
Es beginnt mit einem Schwenk über die Stadt Bialystok; viel Grün ist da, aber auch hässliche Wohnbauten. So sieht es jetzt aus. Es ist widersprüchlich genug, und der Film wird nicht allein Geschichten / die Geschichte / Geschichte dazu liefern, sondern uns auch immer wieder auf die Tatsächlichkeit dieser Stadt hinweisen. Wie ist das geworden? Was wurde darunter zerstört? Was lag davor?
Ein kämpferisches Lied leitet die Antworten ein. Ein Lageplan ist zu sehen. Von einigen kleinen Häusern zieht die Kamera zurück, entfernt uns immer weiter, der Titel erscheint: »Mir zeynen do! Der Ghettoaufstand und die PartisanInnen von Bialystok«. Drei Wege, Überblick und Distanz zugleich zu gewinnen: das Panorama, der Plan, der Abstand. Damit wurde schon verstoßen gegen die Dramaturgie der Medienmacht, die verlangt, den Zuschauer am Anfang hineinzuziehen, ihn zu ergreifen und ihn erst am Ende, wenn er verdaut und bearbeitet ist, auch so zu entlassen. Ingrid Strobl aber beginnt mit dieser Distanzierung, sie mündigt ihre Zuschauer.
Noch einmal gibt es so etwas wie ein Motto, vielleicht eine Klammer zwischen dem Gestern und dem Morgen: »Wichtig«, sagt eine Partisanin, »war nicht unser Leben. Wichtig war, etwas zu tun.« Dann führt die Autorin in die Geschichte der Stadt, in der vor dem Krieg die Hälfte der Einwohner Juden waren. Geschichte, mit wenigen Bildern erzählt: die Teilung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt, der Einmarsch der deutschen Armee, die Massaker durch die SS. Geschichte aber auch mit allen Brüchen und mit allem Misstrauen: Den »Dokumenten« wird in Strobls Film wenig Zeit gegeben, sie sind flüchtiger als Menschen. So ist der Rahmen gegeben für die Mosaik-Arbeit der Oral History des Widerstands. Die Autorin stellt die Erzählerinnen und Erzähler vor und ihre Geschichte nach dem Einmarsch der Deutschen. Dann weiß sie sich zurückzuziehen.
Wahrscheinlich zu früh für die Verhältnisse des deutschen Fernsehens kommt Parteilichkeit ins Spiel. Ist es ein Skandal, das sich der jüdische Widerstand gerade auf die linkszionistischen Organisationen stützte? Haben wir »links« nicht gerade erledigt? Und wollen wir uns etwa hinterrücks, historisch, noch einmal davon betreffen lassen? Medien müssen Macht repräsentieren, sonst sind sie langweilig. Der Blick ist die Macht und das Erblickte das Opfer. Das »Problem« dieses Films ist zum Beispiel, daß Frage und Antwort, der Film und die Gefilmten in etwa das gleiche historische Bewußtsein haben. Die beiden klassischen Modelle der cinematographischen Oral History greifen nicht, nämlich: der Schüler fragt, und der Lehrer antwortet. Der natürlichen Dummheit wird mit zivilisierter Weisheit geantwortet. Oder aber: der Professor fragt, das Volk antwortet. (Der Professor weiß, daß es immer noch Antworten hinter der Antwort gibt, denn das Volk weiß nicht, wie viel es weiß.) Der weiße Bwana fragt, und der edle Wilde antwortet (Edler Wilder pflegt kaputten Bwana zu trösten: Ich Natur, du Sprache). Der zivilisierten Dummheit wird mit natürlicher Weisheit geantwortet. Diese bizarren Verhältnisse gibt es in diesem Film nicht. Die Kamera ist auf Augenhöhe, das heißt hier auch: Solidarität. (Die Einstellung ist die Einstellung, sagt Godard, und warum sollte man diese Aussage immer nur an rechten Beispielen verifizieren?)
Nicht, daß wir ohne Mythen wären. Eine der Erzählerinnen ist Verfasserin eines Buches über den Ghettoaufstand und die Partisanen. Während uns die Autorin über sie berichtet, sehen wir sie in einer Gemeinschaftsküche in ihrem Kibbuz. Dann aber ist die Kamera wieder auf Spurensuche in Bialystok. Kann eine Kamera materialistisch bleiben oder muss sie selbst wider den Willen ihrer Autorin Metaphysik produzieren? Das letzte Bild des Films zeigt eine Straße, die nach oben führt.
Schönheit entsteht, um mit Brecht zu sprechen, in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten. Die Kamera, die Kadrage, das Licht, die Farben, all das ist nicht nur Medium, sondern auch ein Problem. Als wäre die Lüge schon vor der Sprache da. Und als wäre aufklärerisches Sprechen am Beginn vor allem jenes Misstrauen gegenüber der Sprache, das eine nicht unfatale Strenge hervorbringt. Die Aufklärung im Film beginnt mit dem Widerstand gegen die Dramaturgie der heiteren Apokalypse, wie sie in allen populären Medien gepflegt wird. Die Kamera in »Mir zeynen do!« bleibt bei einer Einstellung, wenn sie die Erzählerinnen und Erzähler aufnimmt, ein Gegenüber wird ernstgenommen; auch das widerspricht der Fernsehästhetik, die während eines Gespräches den einen oder anderen Zoom, den einen oder anderen Zwischenschnitt verlangt, damit Bewegung ist, damit man stets die Macht des Zugriffs spürt, damit die Macht des Blicks und die Ohnmacht des Erblickten gesichert ist: das kriegerische Sehen.
Die Produktion des Mosaiks der Oral History durch verschiedene Formen der Erzählung – einmal als Erzählen eines Menschen in die Kamera, das andere Mal als Gespräch mit der im Bild anwesenden Autorin – wird auf der Sprach-Ebene durchbrochen durch Zwischenkommentare der Autorin, historische Zusammenhänge betreffend, und auf der Bild-Ebene durch bestimmte Cluster von Bildern, zentriert etwa um die Holzhäuser von damals, die mit einer besonderen Zärtlichkeit aufgenommen sind. Dieser Metaphern-Subtext von Haus und Straße findet sich auch in den filmischen Zwischenspielen, in denen die Erzählung verlassen und eine Art Reflexion durchgeführt wird. Eine andere Art des Gedenkens. So entstehen verschiedene Kapitel, in denen jeweils andere Personen im Mittelpunkt stehen, bis sich am Ende alle Fäden treffen, das Kollektiv sichtbar wird, zu dem die Einzelnen sich gefunden haben. In diesen Zwischenspielen, dem Innehalten in Trauer, das auch erklärt, was unter anderem die Schönheit eines Liedes, eines Textes, eines Bildes ausmacht, macht sich, zu Recht, auch die Autorin sichtbar und erklärt die andere Seite der Trauer, die Trauer der Nicht-Opfer, die nachgeborene Trauer. Haus und Straße, die Verflechtung der Möglichkeiten, zu Hause und gefangen, unterwegs und vertrieben zu sein, Hiersein und Fortkommen, sind optische Leitmotive dieses Films, der Diskurs und Gesang zugleich ist.
Das Haus ist Heimat und die Straße Schicksal, poltert der Idealist. Nein, werfe ich ein, das Haus ist Haus, und als solches gibt es Licht und Wärme und Ordnung, und die Straße ist eine Straße, schnellster Fluchtweg und gefährlichster. So spricht man über den Film, über sich und die Welt.
Ein Film ist kein Leitartikel und keine Untersuchung. Er ist Idee und materielle Präsenz zugleich; er wird, wenn er »verstanden« wird, immer auch empfunden. Wir müssen nicht romantisch glotzen, wenn jemand seine Mittel so bewußt einsetzt wie Ingrid Strobl, aber wir können auch nicht draufschauen wie in einem Theaterstück. So sind wir sehr nahe an Menschen, ihnen ausgeliefert, wie sie uns ausgeliefert sind. Ein Ausweg ist Solidarität.
Tun wir nicht so, als wäre ein solcher Film von der Medienmacht zu akzeptieren. Er spricht nicht nur anders, er tut es auch in einer anderen Sprache. Er spricht nicht vom mythischen, mehr als vergangenen, nie dagewesenen Widerstand – er spricht von einem historisch konkreten Widerstand und zugleich von den Möglichkeiten des Widerstandes heute oder morgen.
Dies also macht die Unsendbarkeit des Filmes aus: Auf der ersten Ebene (das Dargestellte):
Der Widerstand war links, er war politisch; auch wenn er »vergebens« war, so war er doch nicht nur moralische Geste und ideales Opfer.
Der Widerstand war gewaltsam, er war bewaffnet, er war taktisch.
Der Widerstand war weiblich. (So darf es nicht sein: Ist die Frau politisch, so darf sie nicht gewaltsam sein; ist die Gewalt weiblich, so darf sie nicht politisch sein. Und ist politische, weibliche Gewalt dann doch historisch möglich, dann soll sie, um Himmels willen, nicht so menschlich und uns nah sein.)
Auf der zweiten Ebene (die Darstellung):
Der Widerstand erzählt seine eigene Geschichte. Er wird nicht in den Mythos der Kontinuität eingearbeitet. (Ja, hätte man so etwas wie »Die weiße Rose« daraus gemacht, reine Unschuld, reines Opfer, der Widerstand als Gestus der Kindheit, ja, hätte man nur die Geschichte in die Form eines Märchens gebracht!)
Das Medium bildet keine Autorität aus; die Erzählung triumphiert nicht über das Erzählte; Ingrid Strobl ist, auch wenn sie im Bild ist, nicht Verkörperung jenes Fernseh-Mythos des Erzählers, der schon in seinen Gesten deutlich macht, wen das Medium beherrscht und wem es dient.
Auf der dritten Ebene (das Darstellen):
Die Montage ist nicht suggestiv, sondern rhetorisch.
Die Einstellung ist kein Zugriff, sondern vermittelt Autonomie. (In anderen Zusammenhängen könnten wir über die unendlich schwierige Aufgabe, Intimität und Distanz zugleich zu erfahren/erzeugen, die auch diesen Film, notgedrungen, fast verzweifelt bewegen muss, sprechen. Aber die Zeiten, wie gesagt, sind nicht so.)
Ganz offensichtlich ist also »Wir zeynen do!« nicht in den endlosen Fluss der Bilder und Nachrichten integrierbar, der uns das törichte Glück vermittelt, nach allen Richtungen in Zeit und Raum, in Emotion und Meinung , ununterbrochen »informiert« zu sein. Es ist ein Film, der zugleich gegen den historischen und gegen unseren alltäglichen Faschismus gerichtet ist, gegen das Vergessen und gegen die Blindheit. Ingrid Strobl müsste es einerseits als Kompliment auffassen, dass das deutsche Fernsehen ihren Film nicht senden will. Aber andererseits produziert dieses neurotische elektronische Medium zu viel Öffentlichkeit, als dass wir es als geschlossene Anstalt betrachten dürften. Wenn ein Film über den jüdischen Widerstand gegen den deutschen Faschismus (ein Film, dessen Rang jede(r) Besucher/in eines Volkshochschulseminars über die Semiologie des dokumentarischen Films erkennen kann) nicht dort erscheint, wo »Massenkommunikation« stattfindet, vermute ich, für den Augenblick, eine umfassende Komplizenschaft.
So einfach ist das also? Eine soziale Maschine, die zu bestimmten Zwecken und mit bestimmten Regeln arbeitet, nimmt nicht an, was ihren Zwecken und Regeln widerspricht. Ein Publikum, das nicht sehen und hören will, was den Konsens gefährdet, nimmt nicht an, was außerhalb der industriellen Sinnstiftung liegt. Natürlich ist es nicht so einfach. Nicht ganz. Da sind immer auch sehr konkrete Menschen in sehr konkreten Situationen am Werk. Gott strafe sie.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in Konkret 02/1993
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