Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Kleinbürger

Eine kurze Inhaltsangabe und ein Teil der Besetzungsliste von »Manila« könnten uns dazu verführen, von »Manila« eine Art von verschärftem »Man spricht deutsch« zu erwarten, Spott, Grauen und ein klein wenig Mitleid mit dem hässlichen Deutschen auf großer Fahrt in »seine« Ferienparadiese. Eine Gruppe von Touristen, man kennt die Situation, sitzt auf dem Flughafen von Manila fest, weil das Flugzeug wegen irgendwelcher Mängel nicht starten kann. Beinahe automatisch, jedenfalls ohne weiteres Zutun von außen, ergibt sich ein Ineinander von Klaustrophobie und Krise, anarchischem Ausbruch und rüder Regression. Und in diesem Fall implodiert, was möglicherweise direkt oder indirekt erst zu der Reise geführt hat, eine erotische Sehnsucht, ein Begehren, das sich um so mehr in Gier verwandelt, je mehr es ins Leere läuft. Viele Geschichten also, die sich treffen, verstärken, verzerren; short cuts der Selbstdarstellungen, der Verführungen, der Aggression. Das merkwürdige Sexualverhalten geschlechtsreifer deutscher Kleinbürger in tropenheißer Gefangenschaft.

Bodo Kirchhoff, der Autor, und Romuald Karmakar, der Regisseur, führen ein »Menschenorchester« in wenigen, aber scharf abgesetzten Räumlichkeiten des Flughafens vor: Soli, Duette, kleine Besetzungen, Tutti, piano und forte, Arien und am Ende ganz buchstäblich der schmetternde »Chor der Gefangenen von Manila«.

Jede dieser Personen-Stimmen im deutschen Menschenorchester in Manila hat seine Tonlage und sein Volumen – bliebe man auf der rein narrativen und psychologischen Ebene, könnte man wohl auch vom Klischee sprechen: der Lebenskünstler, die Verklemmte, der Ausbrecher, der Schwabe und die Toilettenfrau. Alle diese Personen-Instrumente sind zwar exakt gestimmt, aber keineswegs auskomponiert. Vielleicht sucht ein solches Menschenorchester nach einem Dirigenten. Für eine kurze Zeit scheint es denn auch gebändigt während des eigentlich höchst undramatischen Auftritts von Eddie Arent, der freilich in seinem improvisierten Mörderspiel auch schon wieder Spiegel der verletzten Innenwelten seiner Zuschauer wird.

Karmakar, das kennen wir von seinen Filmen, versucht nicht, einen Text (oder ein anderes künstlerisches Projekt, oder auch, wie in seinen Dokumentarfilmen, die Inszenierung wirklicher Personen) »filmisch aufzulösen«. Seine Filme reagieren stattdessen auf diese Vorgabe, lassen das andere in gewisser Weise unangetastet, um selber einen eigenen Zugang dazu zu finden. Der Film und das, was er »zum Inhalt« hat, lösen sich nicht ineinander auf, sondern entwickeln einen Dialog miteinander.

Es geht in »Manila« also nicht um die satirische Abbildung einer alltäglichen Situation mit ihren grotesken und komischen, hier und dort auch dramatischen Aspekten, es geht zunächst einmal um einen literarischen Text und um Schauspieler, die sich sehr intensiv damit beschäftigt haben, und um ein adäquates Bühnenbild dazu. Diese Situationen und Texte haben zum großen Teil ihren Glanz in sich, sie müssen keineswegs immer auf eine Pointe hinaus oder etwa auf einen Zuwachs an Erkenntnis auf der Leinwand oder im Zuschauerraum. Nach den Regeln des psychologischen Realismus verhalten sich einige der Figuren überdies höchst verdächtig, ja unglaubwürdig. Natürlich, könnte man meinen, sie verhalten sich wie Figuren auf der Bühne eines modernen Theaters! Aber auch das trifft nicht ganz zu; wenn ihre Trivialität hervortritt, und das muß sie ja in einer solchen Situation immer einmal wieder, dann wird das nicht notwendigerweise das Thema, metaphysische Trivialität sozusagen.

Karmakar baut in seinen Arbeiten Zeit-Fallen auf, wie es nur das Kino kann. Das Kino, zum Beispiel, kann mit dem Kamerablick dort insistieren, wo noch die gewagteste Theater-Inszenierung unter dem Diktat der Realzeit allenfalls Bedeutsamkeit in Anführungsstrichen erzeugen kann. Wie nahe ist eine Kamera einem Menschen, wie lange schaut sie hin, wann sucht sie eine andere Position? Die Kino-Kunst, mit der Karmakar auf die Figuren und auf den Text reagiert, ist fundamental. Das heißt, es ist eine Kunst des Raumes und eine Kunst der Zeit. Tatsächlich ist ja Zeit das filmische Thema von »Manila«. Zeit die einem als großartige Möglichkeit geschenkt wird (bei gleichzeitiger Verknappung des Raums), und Zeit, die einem als qualvolles Opfer auferlegt ist. Während die Zeit also gewissermaßen ihre verlässliche Dramaturgie verliert, die Menschen versuchen, sich in diesem Zeit-Überfluß einzurichten, aber dabei auch ihre Form verlieren, tritt der Raum um so schärfer hervor, verliert nach und nach alles Beiläufige, wird Bühne und Gefängnis.

Wie sehr ich diese Komposition von Raum und Zeit, das Menschen-Orchester, die Oper verdrehter Begierden und Karmakars so eigenwilliges wie überzeugendes Verständnis von Film schätze, das nicht-kannibalische, dialogische Verhältnis zu seinem Material, die Gleichberechtigung von Narration mit dem Musikalischen und dem Architektonischen beim Filmemachen, seine präzise Arbeit mit den Schauspielern, so große Probleme habe ich diesmal mit dem Gegenüber, mit Kirchhoffs Texten, mit seiner Menschen-Konstruktion. Entweder, so scheint mir, geht er in seiner Denunziation (vom unglücklichen Motto des Films ganz abgesehen) zu weit und zeigt dabei intellektuelle Überheblichkeit gegenüber seinen Kleinbürgerhelden, die er auch durch die krause Poesie mancher Szenen und jenes Nichtzuende-Erklären nicht wieder gut machen kann, von der schon die Rede war.

Oder er geht nicht weit genug, weil er das Groteske der Klasse selbst unterschlägt und seinem Menschenorchester nicht den Umschlag vom »schrägen« Musizieren zur kenntlichen Dissonanz erlaubt. Im ersten Fall mangelt es ihm an Liebe, im zweiten an Wut. Und da wird vielleicht klar, was Karmakars cineastische Methode unabdingbar benötigt: ein Gegenüber, das Zärtlichkeit oder Zorn schon in sich trägt. Anders als, sagen wir Flaz in »Demontage IX« oder meinethalben auch Götz George in »Der Totmacher« ist Kirchhoff in seinem Text zu keinem Selbstopfer bereit. Daher wird dieser Film, der doch so viel mehr sein könnte, dann wohl doch wieder nur kabarettistisch gelesen werden. Oder getreu seinem Motto eben: Wie weit du auch in der Welt herumkommst, du bleibst immer ein Schwein. Wer, bitte schön, ist diesmal »du«, und lohnt es sich wirklich, ins Kino zu gehen, um einer Gruppe von Arschlöchern und armen Würstchen dabei zuzuschauen, wie sie auf engstem Raum ihre Arschlöchigkeit und Arme-Würstchen-Haftigkeit zelebrieren?

Autor: Georg Seeßlen