Das Ärgste, was man über diesen Film sagen kann, ist, dass er niemandem, aber auch schon gar niemandem weh tut. So viel traumwandlerische Sympathischkeit, so viel peinliches Vermeiden von Peinlichkeit, so viel liebenswürdige gegenseitige Aufhebung von Märchen und Wirklichkeit – womit haben wir das verdient?
Die ersten Szenen lassen Schlimmes befürchten. Da ist wieder einmal eine unserer sozialen Einrichtungen gezeichnet, als hätten sich die Autoren auf ihre Schilderung vor allem durch intensive Lektüre von Charles Dickens vorbereitet. Da ist alles klein und überschaubar; die Heimleiterin eine Tyrannin, der Abgesandte der Politik ein verlogener Schwätzer, der Kinder-Engelschor am falschen Platz, die Fest-Aktivitäten auf groteske Weise von der Wirklichkeit der „Objekte“ solcher Fürsorge entfernt: Weihnachten. Eine Spende wird übergeben, mit der die Duschen von „Bethanien“ renoviert werden sollen. Das vielsagende „Dankeschön“ der Behinderten, eine aus Streichhölzern zusammengesetzte Kirche, geht in Flammen auf, und bei dem entstehenden Durcheinander schnappen sich die vier Rollstuhlfahrer Aga, Ringo, Spasski und Stefan die 16.000 Mark, um in dieser Heiligen Nacht etwas vom Leben zu erhalten, was Bethanien ihnen nicht geben kann.
Erst nach diesem „Asking for more“ entwickelt sich eine ebenso hübsche wie kompetent inszenierte Kino- bzw. Fernsehfilm-Geschichte, kein rosa- sondern ein Road-Street-Movie, dem das nächtliche München die Kulisse aus Verlockungen, Versprechungen und Versagungen gibt. Mit einem Trick verschaffen sich die vier Zufahrt in das Restaurant „Fürstenhof“, mit einem viel tückischeren Trick werden sie dann doch um das erhoffte Weihnachtsmahl gebracht. Aber ein Mädchen hat ihnen Feuerzeuge verkauft, und weil Spasski sie so großzügig von dem geklauten Geld beschenkt, stellt es ihnen – es handelt sich natürlich um einen Weihnachtsengel – drei Wünsche frei. Die ersten beiden sind schnell geäußert, noch mehr so zum Spaß: bessere. motorisierte Rollstühle, Frauen.
Bei ihrer weiteren Reise durch die Stadt geht Spasskis batteriegetriebener Rollstuhl kaputt. Und die vier gelangen zu der Werkstatt eines skurrilen Mechanikers, der alte Autos restauriert. Der schenkt ihnen schließlich die besten und beweglichsten Gefährte, die sie sich vorstellen können. Ihre neue Freiheit genießen sie auf einer nächtlichen Fahrt durch die ziemlich menschenleeren Straßen, und nach einer glücklich gemeisterten Begegnung mit einer Polizeistreife treffen sie auf die Erfüllung ihres zweiten Wunsches in Gestalt von vier Campingbus-Huren. Jeder erhält etwas von der sexuellen und emotionalen Anerkennung seiner „Normalität“ (und ein kleines, märchenhaftes Darüberhinaus).
Auf dem Weg zu einem kleinen, noch geöffneten Restaurant begegnen Aga, Ringo und Stefan wieder ihrem Engel, und sie stellen ihren letzten Wunsch: wieder gehen zu können. Nur Spasski hält diesen Wunsch für töricht, einen Verrat an der eigenen Person, der eigenen Stärke. In der Tat erweist sich dieser Wunsch als verhängnisvoll: Die Erfüllung bedeutet für sie zugleich immer den Sturz, möglicherweise den Tod. Spasski, der von dem Weihnachtsengel – in einem Einkaufswagen – zurück nach Bethanien gefahren wird, bleibt nichts anderes übrig, als seinen eigenen letzten Wunsch dafür dranzugeben, daß seine Freunde wieder gesund sind und alles wieder so ist, wie es war. Von dem Geld, das der Heimleiterin übergeben wird, fehlen nur die fünfhundert Mark, die sie dem Mädchen mit den Feuerzeugen gegeben haben. Wie zum Hohn weht der Geldschein im Schneetreiben durch das offene Fenster, aber Spasski lehnt sich dagegen auf, dass diese Nacht so folgenlos verlaufen soll. Am nächsten Morgen treten die vier erneut die Flucht an, in fester Überzeugung, aus den Fehlern der Weihnacht gelernt zu haben.
Dies ist weniger ein Film über Behinderte als ein Film über das Wünschen. Darin reflektiert er nicht nur eine Erzählform, nämlich die des Märchens, sondern auch eine Wirklichkeit. Das Scheitern des Wünschens im Märchen warnt davor, bei einem Prozeß der Ablösung, der Befreiung auch, die Begrenzung der eigenen Person zu vergessen. Nicht das Unmaß des Wunsches ist es, sondern der Verlust des Besonderen, von dem Spasski spricht, was mit dem Wunsch zugleich die Grundlage des Wünschens aufhebt. Die Rollstuhlfahrer wünschen sich zu gehen, „Fußgänger“ würden sich wünschen zu fliegen, und müßten ebenso stürzen.
Daß die Entwicklung dieser Geschichte auch in Form des Klischees, der Eindimensionalität zu geschehen hat, liegt auf der Hand: die dummen Polizisten, die hilfsbereiten Neger, die Huren mit den Riesenherzen etc. – es sind ja keine beobachteten Menschen, sondern Figuren in einer Welt des Wunsches. Der Realismus der Geschichte besteht vielmehr aus anderen Elementen: aus der Wiedergabe praktischer Probleme beim Leben mit Beinen, die nicht gehen, Rollstühlen, die nicht rückwärts fahren wollen. Mit das Schönste an Huettners Film ist die Inszenierung einer Ästhetik des Rollstuhlfahrens, die Eleganz und Dramatik hat, wie die Bewegung auf eigenen Beinen, auf dem Rücken von Pferden oder in einem Automobil. Für einen Rollstuhlfahrer besteht die Behinderung vor allem darin, daß die Umwelt sie schafft, fast erfindet. Die ersten beiden Wünsche bedeuten nichts anderes als eine Erkenntnis der „Erfundenheit“ von Behinderung, der dritte dagegen so etwas wie die Bestätigung dieser Erfindung.
Ralf Huettner scheint im übrigen ein Faible für magische Winternächte mit der Erscheinung engelhafter Frauen zu haben. In seinem Abschlussfilm für die Münchner Hochschule für Film und Fernsehen, MARILYN, erscheint in einer schneebedeckten Sylvesternacht dem Helden Rico (Enrico Böttcher, der Ringo dieses Films) – na wer schon. Und wie in DAS MÄDCHEN MIT DEN FEUERZEUGEN führt auch hier das Märchenabenteuer wieder in den Alltag und umgekehrt.
Retten die Engel den deutschen Film, weil sie in den dreißiger Jahren das amerikanische Kino noch einmal davor bewahrten, in die Hölle abzusteigen? Können wir uns auf eine „weiße Serie“ gefaßt machen? Was können Wünsche, und was nicht? Und wann kommt DAS MÄDCHEN MIT DEN FEUERZEUGEN im Fernsehen, für Rollstuhlfahrer unter anderem, für die das Kino nicht gebaut ist?
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 2/88
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