Enki Bilals surrealer Comic-Film
Die wechselvolle Geschichte von Comics und Film wurde nicht nur in Hollywood geschrieben. In den siebziger Jahren gab es in Frankreich eine Art Comic-Revolution. Dazu zählte auch der Zeichner Enki Bilal, der nun mit IMMORTAL – New YORK, 2095: Die RÜCKKEHR DER GÖTTER die ersten Bände seiner Trilogie „Alexander Nikopol im 21. Jahrhundert“ verfilmt hat.
Ästhetisch brachte die Comic-Revolution eine Befreiung von herkömmlichen Erzähl- und Kompositionsformen, ökonomisch war sie verbunden mit der Gründung neuer Magazine und Verlage durch die Künstler selbst, und politisch entstand eine lockere Verbindung mit der Gegenkultur. „Die Welt ist so, wie wir sie zeichnen“, erklärte selbstbewusst einer der Vertreter der neuen Schule, Philippe Druillet, und die Welt war sexy, psychedelisch, morbid und futuristisch. Druillets Statement aus dem Jahr 1976 bezeichnet überdies sehr deutlich, was damals noch den Comics einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Film gab: Alles, was man im Kopf hat, kann man auch auf’s Papier bringen. Das Kino muss immer erst eine technische Umsetzung finden.
Mit dem Siegeszug des Computer Aided Design wurde die Kluft zwischen den Möglichkeiten des Kinos und denen des Comics geringer. Eine Reihe von Vertretern der „Nouvelle Vague“ der französischen Comics drängte es ohnehin zum Film: Moebius alias Jean Giraud schaffte es bis nach Hollywood, Jacques Tardi arbeitete für Federico Pellini, Georges Lauzier übertrug seine Gestalt des „P’tit“ Con selbst in einen Realfilm. Umgekehrt übernahmen die Zeichner aber auch immer mehr filmische Motive und Techniken – und sogar die Stars. Enki Bilal etwa verlieh in seiner ehrgeizigen Science Fiction-Comic-Trilogie um „Alexander Nikopol im 21. Jahrhundert“ seinem melancholischen Helden die Züge von Bruno Ganz. Bilal fand in „La foire aux immortels“ (Die Geschäfte der Unsterblichen, 1980) und „La Femme-piege“ (Die Frau in der Zukunft, 1986) einen neuen, ganz eigenen Ton zwischen Phantastik und Detailrealismus. Es war der perfekte Ausdruck der abgekühlten achtziger Jahre, Aufbruch und Hoffnung war dahin, Kälte zieht durch Räume, Farben und Biographien.
Die Geschichte spielt in einer zerrütteten nahen Zukunft, in einem faschistoiden Paris, das in zwei Zonen geteilt ist. In der einen wohnen die privilegierten Reichen, in der anderen die Überflüssigen und Abgehalfterten; im zweiten Band bietet ein ähnlich desolates London den Hintergrund. Es ist wie nach einem Krieg mit unklaren Fronten – für Bilal eine biografische Reminiszenz. Er wuchs in Jugoslawien auf, bevor er seinem Vater ins französische Exil folgte, und die Bilder des vom Krieg traumatisierten Landes brannten sich ihm ein und liegen, wie er selbst sagt, stets hinter den futuristischen Stadtansichten seiner Comics.
Über der Stadt taucht eine riesige Pyramide auf; altägyptische Gottheiten haben sich die Stadt als Spiel- und Wiedergeburtsfeld gewählt. Zur gleichen Zeit erwacht ein gewisser Alexander Nikopol aus 30-jährigem Tiefschlaf, den man wegen seiner Unbotmäßigkeit bestraft hat. Und eine Journalistin tippt auf einer alten „script walker“ aus dem Jahr 2025 ihre Berichte an die „Liberation“ des Jahres 1993. Jill Bioskop, blaue Haare, weißer Teint, schreibt ihre Geschichten 30 Jahre in die Vergangenheit hinein und muss zugleich Pillen schlucken, um die Erinnerung an die Menschen zu bändigen, die sie selber getötet hat. Sie ist die Geliebte eines geheimnisvollen, todgeweihten Fremden, und der falkenköpfige Gott Horus hat sie zur „Mutter“ für seine Wiedergeburt erkoren und Alexander Nikopol zum „Vater“. Eine einigermaßen bizarre Dreiecksgeschichte in einer bizarren Welt.
Bilal gibt in seinem Film wie in seinen Comics den banalen Ausstattungsgegenständen eine zentrale Funktion; Steckdosen, Mauerrisse, Kacheln oder Telefonhörer erhalten ein malerisches Eigenleben. Hinter dem Phantastischen kommt ein Hyperrealismus hervor. Das Licht ist kalt, es herrscht ein Bleigrau vor. Die Farben geben das Innere der handelnden Figuren wieder, das diese gegeneinander und sogar vor sich selbst verschließen müssen. Das Vertrauteste wird auf diese Weise seltsam, und das Seltsame vertraut. Dagegen werden die Architekturen surreal; die Räume sind eng und verwinkelt. Die Figuren sind wie Gefangene in einer existentialistischen Hölle. Zwischen beidem liegt Schmutz und Zerstörung.
IMMORTAL erscheint weniger als „ComicAdaption“ denn als Versuch einer vollständigen Verschmelzung der beiden Medien. Noch entsteht dabei nichts wirklich Neues, aber immerhin ein Film, der wie ein in Bewegung geratenes Gemälde erscheint. Und der sich nicht am Leitfaden des Plots und schon gar nicht am psychologischen Realismus orientiert, sondern am Malerischen. Manchmal mag man sich da ganz dem sinnfreien Träumen überlassen, manchmal sieht man einem Künstler bei der Lösung ästhetischer Probleme zu, immer wieder aber auch gibt es eine unvermutet direkte Körperlichkeit und Empfindung, eine Sehnsucht der Zeichen, zu Menschen zu werden, eine Trauer um den Verlust der Welt. In der Comic-Fortsetzung der Nikopol-Geschichte gibt es eine berührende Szene. Jill lässt da das Flugzeug, mit dem Nikopol verschwindet, abfilmen, im größten Abschiedsschmerz ruft sie: „Nicht abbrechen! Lass es weiterlaufen, bis ins Schwarz, bis zum Ende!“.
Ins Schwarz hinein und aus dem Schwarz heraus ist IMMORTAL erzählt. Die Traumbilder verdecken nicht die Menschen, sie sind die Folie für die Suche nach ihnen. Ob Bilals Film-Comic gelungen ist oder nicht, ob er hier und da nicht doch ein paar Kompromisse zu viel gemacht hat für einen Weltmarkt des Phantastischen und ob er dafür nicht zu viel von seinen politischen Konnotationen geopfert hat – ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Aber ein Augen- und Kopf-Abenteuer ist es allemal.
Autor: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film
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