Man könnte Hundstage als Ulrich Seidls ersten Spielfilm bezeichnen. Immerhin gab es ein Drehbuch, was bei seinen vorherigen Arbeiten nicht der Fall war. Andererseits schreibt er aber auch die besondere Art des „Dokumentarischen“ in seiner Arbeit fort. Ulrich Seidls Filme waren schon immer „Spiel-Filme“, weil sie zeigten, wie die Menschen mit ihrer eigenen Biographie vor einer Kamera spielten, die ihrerseits ihr eigenes Spiel trieb. Und dokumentarisch bleibt auch Hundstage, weil der Film wieder das Leben von Menschen ohne Traum und Mythos wiedergibt. Für Ulrich Seidl selbst gibt es keinen Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm. Es gibt für ihn nur Filme „über das, was mich beschäftigt“. Was Ulrich Seidl beschäftigt, ist, vielleicht entgegen landläufiger Meinung, weder das Elend der Menschen noch ihre dumme Gewalt. Ihn beschäftigt die Suche nach dem Glück, die Aufgabe des Lebens, an der man gemeinsam und allein scheitert, der Zusammenhang zwischen dem, was uns kaputt macht, und dem, was wir kaputt machen.
In Hundstage flicht Seidl Biographie-Fragmente aus einer Wiener Vorstadt zusammen: Menschen, die an einem Wochenende in der heißesten Zeit des Jahres etwas vom Leben haben wollen und dabei nicht viel weiter gelangen, als sich und andere zu quälen. Zusammengehalten wird dieses Spiel der Biographien durch die teils hektischen, teils trägen Bewegungen dreier Figuren. Die beweglichste Figur ist die junge „geistig behinderte“ Frau, deren Lebensinhalt darin besteht, sich von Autofahrern mitnehmen zu lassen, um sie während der Fahrt mit impertinenten Fragen nach körperlichen und sexuellen Befindlichkeiten und mit nutzlos akribischem Wissen (wie: die zehn größten Supermarktketten oder die zehn häufigsten Krankheiten) an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Die eher stationäre Figur ist ein älterer Witwer, der von seiner Zugehfrau einen Striptease im orientalischen Stil erhält und das ewige Gezänk des jungen Nachbarpaares mit dem laufenden Motor seines Rasenmähers übertönt. Dazwischen sucht ein Mann denjenigen zu erwischen, der nächtens Autos ramponiert. Diese Bewegungen also verbinden die Versuche einer Reihe von Menschen, an diesem heißen Wochenende etwas mit ihrem Leben anzustellen.
Natürlich meint man zuerst sehr genau zu beobachten, wie diese Menschen an einer so scheinbar einfachen Aufgabe wie einem halbwegs würdevollen Leben in einer Situation ohne materiellen Mangel scheitern. So direkt wie in Seidls Filmen sieht man selten, wie Menschen sich selbst und den anderen zur Hölle werden. Aber Seidls Filme funktionieren da genau anders herum als gewohnt: Es geht nicht darum, Menschen und Verhältnisse zu entlarven. Es geht vielmehr darum, Menschen näher zu kommen, die sich selbst schnell hinreichend enttarnt zu haben scheinen. Menschen, von denen man, kaum hat man sie in einer ihrer typischen Lebenssituationen beobachten dürfen, nur wünscht, ihnen im wirklichen Leben nie zu begegnen, möchte man nach einer Zeit doch gern haben und kann es nicht, weil sie selbst immer wieder genau das tun und sagen, was es unmöglich macht. Der Zuschauer und die Zuschauerin sind in Seidls Filmen vollständig in dieses Spiel der Biographien involviert. Und andererseits ist der Blick der Kamera nicht weniger genau auf die Welt der Dinge gerichtet, die dieses Leben bedingen: das Shoppingcenter, der Vorgarten, der Parkplatz, die Wohnung der mittleren Preisklasse, das Auto als Waffe und Gefängnis. Die Hitze dieser Tage kommt noch hinzu, um etwas zu erzeugen, was der Radiosender wiederholt und euphemistisch benennt: „Überlastung“. Die Menschen in Hundstage sind überlastet und wissen nicht wovon.
Es ist Wochenende, und der Film muss nicht davon sprechen, was in der Arbeitswoche zuvor mit den Menschen geschehen ist. Sie wissen es ja selbst nicht, sie tun so, als würden sie sowieso nur an den Wochenenden leben. Schon das führt zur Überlastung; das Scheitern an diesem Wochenende ist nur die logische Fortsetzung eines umfassenderen Gescheitertseins. Die „behinderte“ Anhalterin, die nirgendwohin unterwegs ist, das Ehepaar, das nach dem Tod der Tochter ohne Grund und ohne Sprache weiter zusammenlebt; der erfolglose Vertreter von Alarmanlagen, der sich am Ende noch den schwächsten unter den schwachen Menschen zum Opfer macht, um nicht an der Niederlage zugrunde zu gehen; der Junge und das Mädchen, die schon hoffnungslos in die Rituale von Eifersucht und Abhängigkeit geraten sind und sich in sinnlosen Zornausbrüchen, Abfolgen von Verstoßen und Verfolgen demütigen; die Lehrerin, die nach der sexuellen Sensation sucht und doch nur in eine grausam-banale Quälerei gerät (Seidl erspart da seinen Protagonisten und seinem Publikum nur wenig). Bei alledem ist es nicht einmal die Gewalt, die die Menschen ausüben und erdulden, sondern das Bewusstsein der Gefangenschaft, das am meisten Pein verursacht. Es wird so weitergehen, man wird sich immer wieder mit den Niederlagen arrangieren. Die Hitze, die scheinbar die Dinge auf die Spitze getrieben hat, trocknet nur weiter die Körper und Seelen aus; sie hat nur sichtbarer gemacht, was sonst verborgen blieb.
Alle werden in Seidls tristem Vorstadt-Welttheater gezeigt als Opfer, die auch Täter sind. Ein solcher Film stellt ein paar wichtige Fragen an die Marxisten (so es noch welche gibt) und an die Christen. Das Leben, sagt Ulrich Seidl, ist eine Prüfung, die kein Mensch besteht. Das Leben in der selbstgemachten Hölle, in der man jede Chance zur Befreiung mit der Unterdrückung – mindestens – eines anderen beantwortet, ist seine eigene Überlastung.
Hundstage ist zum großen Teil mit Laien besetzt, und auch von Maria Hofstätter (sie spielt die Anhalterin Anna) wussten die anderen Darsteller nicht, dass sie ausgebildete Schauspielerin ist. Seidl hat sich viel Zeit genommen und seinen Darstellern viel Raum und viel Freiheit gegeben, um zu einem solch präzisen Bild zu kommen. Man könnte wohl sagen, die Entstehungssituation eines Films wie diesem ist schon selbst eine Art von Gegenbild. Weniger im therapeutischen, eher im diskursiven Sinn. Es ist die Freiheit, die der Regisseur seinen Darstellern lässt, die diese dazu bringt, ein wahres Bild ihrer Unfreiheit zu schaffen.
So wie die Models in seinem letzten Film sich selbst spielten, so spielt auch in Hundstage eine Wirklichkeit sich selbst, bei der längst das Inszenierte und das Authentische ineinander verschwommen sind. Seidl ist gleichzeitig ein genauer, geduldiger und durchaus nicht unbarmherziger Beobachter und ein Künstler, der Kadrage und Komposition betörend beherrscht. Seidls Kunst besteht darin, in diesem enormen Spannungsfeld von Ästhetik und Wirklichkeit, von Menschen und Bildern, zu bestehen. Es ist der Punkt, an dem das Kino das Leben angreift. Mit Zorn und mit Liebe, gewiss, aber auch mit einem enormen Wissen von dem, was das Kino sein kann und worauf es sich einlassen kann.
Hundstage ist vielleicht kein angenehmer, aber ein großer Film. Einer von denen, die mit der Zukunft des Kinos zu tun haben.
Text: Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd film
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