Peter Jackson, der neuseeländische Meister des schlechten Geschmacks und mit Filmen wie BAD TASTE, MEET THE FEEBLES Und BRAINDEAD immer für die eine oder andere Empörung von Leuten gut, die nie so lustig und wahrhaftig aussehen, wie wenn sie empört sind, hat mit HEAVENLY CREATURES einen ganz anderen Film gemacht, und ein bisschen sieht man ihm die Mühe an, die das gekostet hat. Es ist einer jener Filme geworden, denen man nicht eigentlich böse sein kann, die in vielen Momenten drauf und dran sind, mich wirklich zu ergreifen, um cineastische Hitze zu erzeugen.
Die Geschichte geht auf einen authentischen Fall in einer neuseeländischen Kleinstadt zurück. Ein alter Dokumentarfilm unter dem Vorspann zeigt den Ort, wie ihn damals, 1952, seine Einwohner wohl gern gesehen hätten, als ideale Mischung aus Geschäftigkeit und Idylle. Der eigentliche Film beginnt mit einer panischen Flucht zweier blutverschmierter Mädchen; aus der Spannung zwischen diesen beiden Eindrücken muß der Film seine Geschichte entwickeln, und in der Montage dieser beiden Eindrücke können wir nicht nur der ldylle nicht trauen, sondern sehen auch eine Ursache/Wirkung-Beziehung zwischen beidem. Der 16-mm-Film am Anfang hat uns in mehrerlei Hinsicht die Wahrnehmung verengt, und gleich darauf, als sich der Blick weitet, die Leinwand gefüllt wird, ist auch schon das Grauen da.
Juliet Hulme kommt neu in die Christchurch Girl Highschool, in der die uniformierten Mädchen mehr gedrillt als gebildet werden. Juliet ist weit gereist, sie kommt aus gutem Haus, ist verdammt arrogant und verdammt einsam. Pauline Parkers Widerstand ist passiver, sie verweigert sich, brütet in sich hinein; sie kommt aus einer eher proletarischen Familie, aus bescheidenen Lebensumständen, wo man Zimmer an Studenten vermieten muß, der Vater mit Fischen handelt und selbst schon wie ein Fisch aussieht und die Küche zum erbitterten Kampfplatz um jeden Zentimeter Leben wird. Die beiden Außenseiterinnen freunden sich miteinander an, unter anderem verbinden sie die Schwärmerei für Mario Lanza und die Kino-Helden der Zeit. Nur Orson Welles, den Pauline mit auf den nächtlich errichteten Altar der Götter setzen will, akzeptiert Juliet nicht.
Juliet und Pauline errichten sich ihr eigenes Traumreich; sie spielen/leben/schreiben einen Roman um ein magisches Königreich, selbstgefertigte Tonfiguren sind die Handlungsträger einer endlos weitergesponnen Legende um Charles und Deborah, den Helden dieses Reiches, deren Rollen Pauline und Juliet manchmal übernehmen. Und gelegentlich, wenn sich Glück und Schmerz begegnen, betreten sie die „vierte Welt“, in der riesige Schmetterlinge über eine arkadische Landschaft flattern und Einhörner ihrer friedlichen Wege ziehen.
Pauline beginnt ein Tagebuch über ihre Beziehung, ihre Träume von einer Karriere als Autorinnen in Hollywood und ihre Erfahrungen in der „vierten Welt“ zu schreiben, das mehr und mehr zur Dokumentation einer Leidensgeschichte wird. Das fragile Gleichgewicht zwischen schrecklicher Alltagsbanalität und glücklichen Stunden in der Traumwelt bricht zusammen, als Juliets Eltern zu einer langen Reise nach England aufbrechen. Nach einer neuerlichen Auseinandersetzung mit der Lehrerin bekommt Juliet einen furchtbaren Hustenanfall und wird gezwungen, ihre Tuberkulose in einem Sanatorium auszuleben. Pauline schreibt ihr als „Charles“ lange Briefe, kommt mit der Mutter zu Besuch und verläßt schließlich Juliet zuliebe auch ihren ersten Geliebten.
Die enge Beziehung der beiden Mädchen wird für ihre Familien immer mehr zum Problem; auf unterschiedliche Art arbeitet alles auf eine Trennung hin. Ein Psychiater erklärt Paulines Mutter die „Gefahren“ der Homosexualität, und während Mrs. Parker alles daransetzt, den Kontakt zwischen den beiden einzuschränken, bricht Juliets Welt zusammen: Ihre Mutter hat sich mit einem Klienten ihrer Eheberatung zusammengetan, der Vater wird von der Universität entlassen, Scheidung und Auflösung des Hauses, die endgültige Trennung von Pauline über Kontinente hinweg steht bevor. Die Mädchen schmieden gemeinsam Fluchtpläne, aber da ist Paulines Mutter, die alles vereitelt. Nur ihr Tod kann Juliets und Paulines Trennung verhindern.
Juliet Hulme und Pauline Parker werden des Mordes überführt, vor allem durch Paulines Tagebuch. Die Frage, ob die beiden geisteskrank oder kriminell sind, beantwortet das Gericht mit einer drakonischen Gefängnisstrafe, deren Länge im Belieben Ihrer Majestät steht. Entlassen werden sie Jahre später mit der Auflage, einander nie wiederzusehen.
Drei Filme stecken in HEAVENLY CREATURES. Der erste ist eine Untersuchung über die Genesis eines Mordes. Da ist Peter Jacksons Film sozusagen eine altmodische Antithese zu Oliver Stones NATURAL BORN KILLERS: Jede Gewalttat hat ihre Geschichte, ihre Ursachen, ihre Bedingungen. Man muß nur genau hinsehen. Das reicht von der Unterdrückungsmaschine Schule bis in die Familien, in denen die schwachen Väter von den Frauen übertrumpft werden, und selbst noch in den Diskursen von sozialer Enge und natürlicher Weite des Landes liegen Bedingungen für eine Passion, die nur in Zerstörung enden konnte. Die zweite ist möglicherweise komplizierter: Es ist der Versuch, den Film, von dem Pauline und Juliet geträumt haben, und den sie nie realisieren konnten, doch noch zu drehen. So werfen wir immerhin einen Blick in das erträumte Königreich, in die „vierte Welt“, sehen die Ränder zerreißen zwischen Realität und Phantasie. Die schönste Rolle in diesem Film hat Orson Welles: als Bild, das auf einem Bach schwimmt, als Tonfigur, die furchtbare Rache an den Drangsalen der Realität nimmt, als Gespenst der Männlichkeit, das die Mädchen nach einem Kinobesuch durch die Straßen und noch einmal näher zueinander treibt. Er ist ihr Geschöpf, und das ist das Thema des dritten Filmes in HEAVENLY CREATURES: Wer „macht“ das Leben und die Bilder, wie werden die Prozesse der Phantasie in Gang gesetzt, und wie werden sie unterdrückt?
Es macht Jackson, wie gesagt, ein wenig Mühe, diese drei Filme auf eine zugleich korrekte und poetische Weise zusammenzubringen. Darunter werden die Erklärungen gelegentlich ein wenig platt, und die Phantasien, so schön sie zunächst anzuschauen sind, zu vorsichtig, als dürften sie das Plädoyer nicht stören, als müßte auch HEAVENLY CREATURES sich, ganz anders als die bösen, satirischen Splatter-Filme des Regisseurs, im Interesse seiner Personen den Rationalisierungen des „Kriminellen“ und des „Verrückten“ unterwerfen. Wir sehen zwei Künstlerinnen im Werden, die sich liebten, die vielleicht auch eins waren, auf eine Art, die nicht geduldet werden kann von einer Gesellschaft, die die Identifikationen der Person als oberstes Gebot sieht (wie es in den grotesken Schulszenen aufscheint, wie es das bizarre Kreisen von Mütter- und Väterphantasien um die Vorstellung von weiblicher Homosexualität verschleiert) und die zu Mörderinnen wurden, weil sich alles gegen ihre Bestimmung stellte. Aber ist der Diskurs wirklich so eindeutig? Sollten wir als Zuschauer uns wirklich so sicher fühlen dürfen wie in Peter Jacksons Film? Paulines und Juliets Film wartet noch darauf, gedreht zu werden.
Autor: Georg Seeßlen
Diese Kritik ist zuerst erschienen in: epd film 7/95
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