Thomas Harris‘ Roman „Hannibal“ schlägt sehr merkwürdige Blasen. Genauer formuliert: Im letzten Drittel des Buches kann man einem Autor dabei zusehen, wie er den Verstand verliert. Nicht so sehr wie einer, der sich an seinem furchtbaren Objekt, dem geistreichen Kannibalen Dr. Hannibal Lecter, infiziert, sondern eher wie jemand, der in dem Bemühen, mit seinen selbst geschaffenen erzählerischen Voraussetzungen fertig zu werden und sich zugleich stets selbst zu überbieten, nur noch kranken Stuss produziert. Faszinierend hier und da, mit ein paar grandiosen Momenten, und gewollt oder nicht, auch eine ziemlich genaue Reaktion auf die Zeit.
Natürlich muss Hollywood auch kranken Stuss verfilmen, wenn er Erfolg versprechend ist, ganz abgesehen davon, dass bei einem Autor wie Harris das Pokern um die Rechte schon beginnt, bevor er selbst weiß, was in seinem Buch eigentlich vorkommen soll. Was Harris dann abgeliefert hat, muss in den Produktionsetagen für ratlose Hektik gesorgt haben. Das letzte Drittel des Romans „Hannibal“ (Rezension epd Film 12/99) jedenfalls galt von vornherein als unverfilmbar, nicht bloß, weil es selbst bei zurückhaltender Bildgestaltung die Zumutbarkeitsgrenzen im Mainstream-Kino überschreitet, sondern auch, weil es rein erzählerisch nicht mehr viel Sinn ergibt. So versuchten sich eine Reihe von Drehbuchautoren, Produzenten und Regisseuren an dem Stoff und scheiterten. Entweder an Harris oder an Hollywood. Hinzu kam, dass man im Schatten eines filmischen Glücksfalls, The Silence of the Lambs, arbeitete, und die Hauptdarstellerin von damals, Jodie Foster, nach der Lektüre des Buches nicht mehr zur Verfügung stand. Sie weiß, was sie tut. David Mamet sollte dann dem ganzen Albtraum etwas Eleganz verleihen, und auch sein Co-Autor Steven Zaillian, eher für ernste Stoffe wie Der Falke und der Schneemann oder Schindlers Liste bekannt, wurde gegen die Erwartungen an einen Genre-Film gesetzt. Ridley Scott schließlich war der Regisseur, dem man zutraute, auch aus krankem Stuss etwas Ansehbares zu machen und vielleicht sogar eine eigene Vision einzubringen.
Den gemeinsamen Bemühungen ist es schließlich gelungen, dem Film einen Anstrich von stilistischer und dramaturgischer Kohärenz zu verleihen und die Story von den kränkesten Seitenlinien zu befreien. Zehn Jahre nach den Ereignissen von Das Schweigen der Lämmer lebt Dr. Hannibal Lecter unbehelligt in Europa und hat, so scheint’s, das Morden auf ein notwendiges Minimum begrenzt. Stattdessen widmet er sich der Lebensart und der Kunst. Als „Dr. Fell“ wird er zum Leiter der Bibliothek im Palazzo Vecchio von Florenz. Florenz kann sehr schön sein, besonders im Gegenlicht. Zur selben Zeit gerät die FBI-Agentin Clarice Starling (nun von der toughen Julianne Moore verkörpert) in eine berufliche und menschliche Krise, nachdem sie bei einem Einsatz eine Drogendealerin erschossen hat, die ein kleines Kind bei sich trug. Der amerikanische Straßenalltag kann sehr kalt und blutig sein, besonders auf dem Fischmarkt. Außerdem geht ihr nach wie vor Hannibal Lecter im Kopf herum, der ihr Leben begleitet wie ein bad habit. Dritte Figur im Spiel ist der reiche Mason Verger (Gary Oldman, noch in der Maske, die ihn unkenntlich macht, erschreckend gut), der sich für die grausame Verstümmelung durch den Doktor rächen will. Auch wie die Anwesen reicher, wahnsinniger Amerikaner und deren Innenarchitektur im Dämmerlicht wirken, ist in unserer Bilder-Bibliothek abgelegt. Dann ist da noch ein florentinischer Polizist (Giancarlo Giannini), der seine Geldgier (und vielleicht seine Familiengeschichte) mit dem Leben bezahlen muss, ein paar wahrhaft animalische Schurken aus Sardinien, und ein ebenso arroganter wie korrupter Beamter (Ray Liotta), der am Ende ziemlich hirnlos erscheint. Als Starling vom Dienst suspendiert wird, und sie den florentiner Questura-Agenten vergeblich gewarnt hat, kehrt Hannibal in seine amerikanische Heimat zurück. Denn dass das zwischen den beiden eine sehr, sehr seltsame Liebesgeschichte ist, das wissen wir ja.
Man kann den Beteiligten redliches handwerkliches Bemühen nicht absprechen. Sie kämpfen sichtbar mit dem Stoff. Von den Schauspielern über Kamera und Schnitt bis hin zu Scotts Regie: Jede und jeder scheint beweisen zu wollen, dass man für bessere Aufgaben bereit ist. Nur der Komponist Hans Zimmer erlaubt sich gelegentlich sarkastisch gegenläufige Motive, und Anthony Hopkins spielt seine Hannibal-Figur mit solchem Vergnügen, dass sie fast in Selbstparodie umkippt. Vielleicht wäre ja der ganze Stoff nur in der parodistischen Auffassung zu retten gewesen. Ich meine damit keine Veralberung, eher eine Spur der Selbstironie, mit der man einige der eher unterschwelligen Motive aus The Silence of the Lambs weiter hätte verfolgen können, statt sie dem groben Effekt zu opfern, der Hannibal zu einem Ende von erhebender Lächerlichkeit führt.
Nicht dass Ridley Scott nicht eine filmische „Nebenabsicht“ verfolgt hätte, das tut er immer. Hannibal ist ein Film über Spuren, Kommunikation, Augen-Blicke und gleichsam das schwarze Gegen-Bild einer der üblichen Verschwörungs-Fantasien. Es genügt ein Einziger, der die Regeln kennt und sich nicht an sie hält, um jedes System, auch das von sozialer Kontrolle und Überwachung, absurd zu machen. Umgekehrt fressen sich die Systeme, einmal gezielt gestört, stante pede selbst auf. Hannibal the cannibal ist neben vielem anderen auch eine systemtheoretische Metapher. Aber auch eine auf die „Vergiftung“ Amerikas durch die europäische Dekadenz oder umgekehrt, eine Reaktion auf die Vergiftung des amerikanischen puritanischen Kapitalismus.
Richtig interessant aber ist eigentlich nur die Beziehung zwischen Hannibal und Clarice Starling, die Thomas Harris nur deshalb nicht kaputt bekam, weil er sie selbst lieber nicht verstehen wollte. Diese Beziehung löst sich nun, auch das ist eher typisch für Scott, in der Form einer charakteristischen weiblichen „Einsamkeit der Tat“ auf. So wird aus Hannibal Lecter eine Wiedergeburt des „Alien„, das Wesen des reinen, bösen Genusses, und aus der neuen Clarice Starling eine Wiedergeburt jener Ripley, die gegen das maßlose Begehren den Kampf um ihre Identität führt, und zugleich sich mit dem phallischen Begehren der Welt symbiotisch verbunden weiß. Welches Bild formt sich in welchem Blick: das des Kannibalen im Blick der traumatisierten, bewaffneten Frau? Oder das der verletzbaren Jägerin im Blick des dunklen Vaters?
Hannibal möchte so etwas wie der neue „Ödipus“ im veränderten gender discourse sein, und Ridley Scott versteht sich auf den mythologischen Subtext von Kolportage- und Genre-Stoffen. Aber natürlich erzählt er auch in jeder Einstellung davon, dass es damit nichts geworden ist und dass ihm die Vorlage eher im Weg steht als ihm dabei zu helfen, auf seine Themen zu kommen. Und dafür rächt er sich auf seine Weise. Sein Film will genau dort ernst machen, wo nur noch das Komische etwas ausrichten hätte können, und er wird genau dort komisch, wo die Lage wirklich ernst ist. Das Schöne und das Scheußliche, das Erhabene und das Lächerliche begegnen einander nicht ganz vorhersehbar. Ohne Reiz ist solches Changieren der Stimmungen gewiss nicht: So etwas mag dabei herauskommen, wenn ein „Apparat“ auf einen „Albtraum“ reagiert – wobei sich die Beziehung Apparat/Albtraum zwischen dem Kannibalen und der Polizistin genau spiegelverkehrt verhält. Ein großer Film ist aus dem kranken Stuss aber trotzdem nicht geworden.
Georg Seeßlen
Text veröffentlicht in epd Film 2/2001
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