Das vergessene Verbrechen
1941 erschoss eine SS-Einsatzgruppe in der Schlucht von Babij Jar 30.000 Juden. Der gut gemeinte Spielfilm von heute bringt das Verbrechen ins Format der Vorabendserien-Soap. Frage: kriegt sich das liebende Teenie-Paar? Antwort: es kriegt sich. Der ukrainische Junge kauft rechtzeitig ein Boot und rudert mit dem jüdischen Mädchen ins Glück. Schön ist es in der Ukraine. Dort lebten bis zum Einmarsch der „Faschisten“ Ukrainer und Juden Haus an Haus in trauter Harmonie. Wenn da allerdings nicht Katrin Saß wäre, treu sorgende Familienmutter und aus dem Stand glühende Antisemitin. Die Nazis sind gekommen, und sie möchte das Haus der jüdischen Nachbarn für ihre Kinder. Sie denunziert die Nachbarn als Partisanen, obwohl sie doch Juden sind. Die Wehrmacht findet in einer fairen Untersuchung die „Falschaussage“ heraus und entschuldigt sich bei den zu unrecht Festgenommenen. Ein Offizier trägt auf einem Tablett ein Kaffeegedeck herein und bedauert: „Das ist alles, was wir haben“. Nun geht es Mutter Saß an den Kragen. Vatern würgt sie, bis ihr die Augen herausquellen: „Du Hexe, ich bring Dich um“. So käme die Welt wieder in Ordnung, auch wenn es Schmierentheater ist. Doch für die Gerechtigkeit sorgen endlich Wehrmacht und SS. Zur Strafe für ihre Falschaussage wird die Antisemitin zusammen mit den 30.000 Juden in Babij Jar erschossen, Zahn um Zahn. Der Film nimmt sich Zeit, 300 nackte Komparsen aufzunehmen, wie sie den Hang herunterkullern.
Nicht nur, dass im Fall der bösen Katrin Saß die Babij Jar-Exekution gerecht war, lernen wir, sondern auch, dass es bei „den Faschisten“ die Guten gab. Eins ums andere mal rettet einer einen Juden, und wenn nicht, schießt sich der blutjunge SS-Mann in den Mund. Weil er das alles nicht mitansehen konnte.
„Selbst in Zeiten wie diesen kann uns niemand die Liebe stehlen“. Tapfer sagt das Paar auf der Teenie-Schiene Greisendialoge auf. „In meinem Herzen wird es nie wieder dunkel werden“. Die beiden setzen sich von den Erwachsenen ab und gehen einer lichten Zukunft entgegen.
Es ist leicht, den Film zu verreißen. Doch niemand wird dem Altproduzenten Artur Brauner absprechen, das Beste gewollt zu haben. Aber wenn schon die TV-Vorabend-Zielgruppe, warum dann ein völlig verkorkstes Drehbuch? Die lückenlose Kette lächerlicher Klischees? Die unbeholfenen und papierenen Dialoge? Was ist, wenn im Kino gelacht wird? Der Film „Babij Jar“ ist ein Desaster.
Dietrich Kuhlbrodt
Dieser Text ist zuerst erschienen in: Konkret
Babij Jar
Das vergessene Verbrechen
(Deutschland / Weißrussland 2002; Regie: Jeff Kanew)
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