Ein Film wie ein Kaleidoskop oder ein zerstückelter Spiegel. Je nach Blickwinkel lassen sich verschiedene Muster und Formationen entdecken, kann der gleichermaßen spielerisch-assoziative wie komplexe Film verschieden gesehen und verstanden werden. Wenngleich die Einzelteile dieselben bleiben.
„Ein Frau“- das ist Marie-Louise Chatelaine, genannt Malou, die Mutter der Filmemacherin. Ein ganzes Jahrhundert ist in ihre Biografie eingeschrieben: Sozialer Aufstieg, Identitätssuche und Abhängigkeit, Flucht und Migration. Gleich zu Beginn jedoch gibt die Regisseurin zu bedenken, dass es ihr nicht um eine „einfache“, übersichtliche Erzählung geht, sondern um eine grenzüberschreitende Spurensuche.
Den Nukleus des Films bildet das schicksalhafte Leben von Malou, die 1911 in Frankreich geboren wurde und als Waisenkind in prekären Verhältnissen aufwuchs. Ihre einzigen glücklichen Jahre an der Seite von Carlos Meerapfel, eines vermögenden jüdischen Kaufmannsohns, sollten nicht von Dauer sein. Nach der Flucht aus Nazi-Deutschland, der geglückten Emigration nach Argentinien, verlässt Carlos seine Frau, mittlerweile Mutter zweier Töchter, zugunsten seiner langjährigen Geliebten. Es folgt der Sturz ins Nichts. Einsam und weitgehend mittellos lebt Malou die letzten Jahre in einem Randbezirk von Buenos Aires, stirbt 61-jährig an Nierenversagen.

Die Regisseurin macht es sich bei der Rekonstruktion dieses Lebens nicht einfach. Erkenntnis- und wahrnehmungstheoretische Gedanken fließen in ihren Film ebenso ein wie Episoden aus der französischen oder argentinischen Geschichte. So erinnert die Regisseurin beispielsweise an die Konkubinen Henri IV, die denselben Namen hatten wie die Mutter und auch tragisch endeten. Oder an die Entführung des Leichnams von Evita Perón. Über zwei Jahrzehnte blieb dieser verschollen. Zu viel Angst hatten die argentinischen Militärs vor dem Evita-Kult.

Jeanine Meerapfel lässt ihren Skeptizismus gegenüber Ordnungssystemen und Hierarchisierungen viel Raum. Ihr Misstrauen gegenüber autoritären bzw. selektiven Gesten ist grundsätzlich. Ein logisch wirkendes System, das ist genauso wenig „ihr Ding“ wie eine scheinbar einfach nachzuerzählende Lebensgeschichte. Die Regisseurin bevorzugt Leerstellen, Brüche, spontane Richtungswechsel. Rhizomartig ist der Film angelegt und verweist auf all das, was nicht gesagt, gezeigt, erinnert oder gefunden wird. Diese Art der Montage, das Zusammenführen und Hinterfragen verschiedenster Stil-, Erzähl- und Reflexionsebenen erinnert an die beeindruckenden Filme von Patricio Guzmán – wer seinen „Perlmuttknopf“ nicht kennt, dem sei er hier dringend ans Herz gelegt.



Sogar das Bildermachen bzw. Bildernehmen ist Jeanine Meerapfel letztendlich suspekt.
Und so wundert es nicht, dass Speichermedien, wie das ihr zur Verfügung stehende Familienarchiv kritisch hinterfragt werden. Die alten Fotografien und die vom Vater erhaltenen Super 8-Filmrollen dienen lediglich dazu, die Orte, vor allem jedoch die Gebäude, aufzusuchen, wo die Mutter gelebt hat. Und so geht die Reise zunächst nach Mâcon und Chalon-sur-Saône im Burgund, hier hat Malou ihre traurige Kindheit und Jugend verbracht, über Untergrombach in Südbaden, der Ort der Tabakfabrik der jüdischen Großeltern, nach Amsterdam, der ersten Station der Flucht, und dann über Spanien und Portugal bis nach Buenos Aires. Fast überall trifft die Filmemacherin auf die jetzigen BewohnerInnen der Häuser, deren Geschichten wiederum ganz andere Fenster öffnen. Manchmal gelingen dabei zauberhafte Momente. Etwa, wenn die kleine Tochter der türkischen Familie, die heute in dem damaligen Haus der Großeltern lebt, die fotokopierten Fotografien von Malou an die Wände ihres Kinderzimmers pinnt. Für das Mädchen ein neues Spiel, für die Regisseurin vielleicht ein tröstender Moment, für die ZuschauerInnen eine überraschende Überlagerung verschiedener Zeit- und Deutungsebenen. Und dann kommt die letzte Station dieser dramatischen Frauenbiografie, die so stellvertretend steht für die vielen Frauen, vor allem dieser Generation, die in einer totalen finanziellen und sozialen Abhängigkeit von ihren Männern lebten. Es ist das feuchte, armselige Haus in einem Randbezirk von Buenos Aires. Jeanine Meerapfel trifft hier auf Piti, die völlig vorbehaltlos ihre Türe öffnet und das Filmteam in ihr Leben treten lässt.

Aber es gibt auch die leichten, poetischen Momente. Etwa wenn die hervorragende Kamera (Johann Feindt) den eigentlich unmöglichen Flug von Schwalben filmt, oder das sanfte Wogen von Schilf und Kornfeldern im sonnigen Frankreich. Das sind dann die Stellen, die eher an einen Roman erinnern, wo ZuschauerInnen zu Leserinnen werden – mit ihren jeweils ganz eigenen Erinnerungen, Fantasien und Einfällen.

„Eine Frau“ ist nicht nur ein stimmungs- und anspruchsvoller Film, sondern darüber hinaus ein Film, der veranschaulicht, dass Erinnern neben Aufarbeitung und Tröstung vor allem eines ist, nämlich ein durch und durch paradoxales Unterfangen. So erklärt sich auch das Eingangsbild, welches vielfach verzweigte Wurzelstöcke riesiger Bäume in einem Park in Buenos Aires zeigt. Unmöglich einen Hauptstrang zu finden. Und vielleicht stimmt es auch, was die Regisseurin an einer Stelle sagt: „Man muss sich erinnern, um vergessen zu können.“

 

Daniela Kloock

Still und Poster:  © Unafilm

Eine Frau
Deutschland 2021 | 104 min
Kinostart: 01.12.2022, in Berlin: Bundesplatz Kinos  | Kino Krokodil | Moviemento | filmkunst 66