„Vorsichthalber sollten wir davon ausgehen, dass wir alle in Gefahr sind.“ |
„Wir könnten genauso gut tot sein“, der erste Langfilm und Abschlussfilm (HFF) der Regisseurin Natalia Sinelnikova, eröffnete auf der diesjährigen Berlinale die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“. Schon allein der Titel erweckte Aufmerksamkeit, das Thema erst recht. Der Film behandelt nämlich eines der aktuellsten und basalsten menschlichen Gefühle, die Angst. Wie diese zu Gruppenterror, Diskrimierungen, psychischen und physischen Übergriffen bis hin zu totalitären Dynamiken führen kann, wird in „Wir könnten genauso gut tot sein“ vorgeführt. Eine Sozialsatire soll der Film laut Regisseurin sein, dabei gleichermaßen schmerzvoll wie witzig.
Der Film spielt in einer orwellesken Szenerie. Ein abgeschirmtes Hochhaus, das Haus des „heiligen Phöbus“, gilt als vermeintlicher Ort totaler Sicherheit. Er beherbergt eine krude, paramilitärisch organisierte Hausgemeinschaft. Wer hier wohnt, wurde streng selektiert und hat sich rigiden Regeln zu unterwerfen. Vor allem muss eines eingehalten werden: Gefühle komplett zu unterdrücken. Die ganze Atmosphäre ist geprägt von Bespitzelung und Misstrauen, Isolation und Zwanghaftigkeit. Permanent liegt die Drohung in der Luft, dass, derjenige, der ausschert, auffällt oder sich verweigert, ausgestoßen wird. Er muss dann hinaus in den Wald. Was dort jedoch genau lauert bleibt im Unklaren. Etwas ganz Grauenhaftes muß es jedoch sein, denn alle befürchten nichts mehr als dieses Schicksal.
Ioana Iacob als Anna spielt mit großer Präzision und Überzeugungskraft die Hauptfigur. Sie ist die Sicherheitsbeauftragte. Als solche trägt sie nicht nur eine perfekt sitzende Uniform, sondern sie hat auch den unerbittlichen Ton, der gebraucht wird. Anna läßt sich nicht bestechen, kontrolliert alles, vollzieht strenge Verhaltensvorschriften und Bestrafungsmethoden, und sorgt via permanenter Überwachung für Ruhe und Ordnung. Doch als der Hund des Hausmeisters verschwindet, kippt die Stimmung. Am Ende wird es dazu kommen, dass ausgerechnet sie und ihre Tochter, die sich im Badezimmer verschanzt hat, weil sie meint den bösen Blick zu haben, das Hochhaus verlassen müssen.
Für einen Erstlingsfilm erstaunlich gut setzt die Regisseurin ihre Figuren (mit von der Partie sind u.a. Jörg Schüttauf, Susanne Wuest und Jörg Pose) in diese aussichtslose Welt, die keine Hoffnung, keinen Halt und keine Freude kennt. Eine dystopische Atmosphäre bestimmt die ganze Handlung. Dazu tragen nicht zuletzt auch die streng durchkomponierten Bilder (Kamera: Jan Mayntz) bei. Nur leider wird der dumpf-dunkle Grundton des Films nicht gebrochen, auch bleiben die einzelnen Charaktere zu schwach gezeichnet. Vielleicht liegt genau darin der Unterschied zum Greek Weird Wave Cinema eines beispielsweise Yorgos Lanthimos, an dem sich Natalie Sinelnikova stilistisch und thematisch offensichtlich anlehnt. „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist eine durchweg düstere Parabel – eher als eine angekündigte Sozialsatire. Zu ernst nimmt die Regisseurin ihr Thema. Schade, dass der Film 94 Minuten lang nur eine einzige Message kennt: Es gibt keinen Schutz weder vor der Natur, noch vor den Menschen. Alles ist per se Gefahr, unkalkulierbar und erbarmungslos.
Daniela Kloock
KINOSTART: 29.09.2022
Bilder: Eksystent Filmverleih
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Forum - 24. Februar 2024
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Panorama - 23. Februar 2024
- Herausragendes im Wettbewerb der 74. BERLINALE - 23. Februar 2024
Schreibe einen Kommentar