Einer der herausragendsten Künstler der DDR ist Jürgen Böttcher, alias Strawalde. Die Fülle seines Schaffens kann derzeit im Kino Babylon Mitte goutiert werden – fast eine kleine Sensation, denn viel zu selten bietet sich diese Gelegenheit. Das Film-Programm, welches auch Gespräche mit dem Regisseur beinhaltet, läuft noch bis zum 12. Juni bei FREIEM EINTRITT.
Wiewohl der heute 90-jährige Jürgen Böttcher Generationen von FilmemacherInnen nachhaltig beeinflusst hat, begann sein künstlerischer Weg in früher Jugend mit dem Zeichnerischen. Stift und Pinsel waren zunächst seine Werkzeuge, seine Vorbilder die Künstler der Renaissance. Das Malen gegen jedweden Widerstand und jede Konvention hat er sich jedoch vielleicht auch von Picasso, den er bis heute verehrt, abgeschaut. Wie seine Bilder mit Verfremdungen, mit einem schnellen Wechsel von Stilen und Perspektiven spielen, und wie subversiv das alles letztendlich für die Kulturfunktionäre der DDR gewesen sein muss, dokumentiert anschaulich das Film-Triptychon „Verwandlungen“ (1981): „Potters Stier“, „ Venus nach Giorgione“ sowie „Frau am Klavichord“. Mit einfachsten und umso erstaunlicheren Mitteln berühren sich hier Film, Animation und Malerei, lange bevor andere Künstler mit ähnlichen Methoden experimentierten.
Herrlich und erstaunlich frisch wirkt es nach wie vor, wie der Künstler beispielsweise die „Schlummernde Venus“ von Giorgione (beheimatet in der Gemäldegalerie „Alte Meister“ in Dresden) bearbeitet und ironisch, frech und vor allem komplett respektlos verfremdet. Das rote Kissen auf dem die völlig unbekleidete, junge Dame ruht, habe ihn genervt, erklärt Jürgen Böttcher, der sich als Maler nach einem Ort seiner Kindheit, Strawalde, nennt. Also habe er begonnen die ihm zur Verfügung stehende Abbildung in Form einer Postkarte zu übermalen. Der schönen Nackten werden Punkte, Striche, Wassertropfen angelegt, mal verschwindet sie ganz, vor allem aber durchläuft sie phantasievolle, teilweise auch beunruhigende Metamorphosen. Unterlegt ist die ganze auf 35-mm gefilmte Aktion, frei nach Brechts Verfremdungstheorie, mit einem dunklen Sound und merkwürdigen Geräuschen. Strawalde – der Name, der klingt wie eine Mischung aus Vivaldi und Stradivari, kann durchaus programmatisch verstanden werden. Denn sowohl seine Bilder, besonders jedoch die Filme Jürgen Böttchers sind immer rhythmische, musikalisch komponierte Gesamtkunstwerke. Klang und Schaulust gehören für den Künstler unmittelbar zusammen. Seine Filmsequenzen sind häufig „nur“ mit Geräuschen unterlegt, die aber äußerst präzise zum Einsatz kommen. Feinsinnig und sensibel ist das, und wer an der zunehmend akustischen Schlampigkeit heutiger Film- und Fernsehproduktionen leidet, der wird hier vorbehaltslos glücklich gemacht.
Obwohl seine Gemälde, die heute zum Bestand der Sammlungen großer Museen gehören, in der DDR unter dem Stichwort Formalismus und Abstraktion diskreditiert wurden, wählte Strawalde nicht wie sein weltberühmter Schüler R.A. Penck den Weg in den Westen. Stattdessen könnte man ihn als einzigen Künstler bezeichnen, der den sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat beim Wort nahm. 1955 ging Böttcher an die Filmhochschule und arbeitet bis 1991 im DEFA-Dokumentarfilmstudio. Hier entstanden bis 1990 die Filme, die Menschen bei der Arbeit, vorzugsweise bei schwerer körperlicher Arbeit, zeigen. Das Ineinander-gehen von Abläufen bei Herstellungsprozessen, die vielen Handgriffe, das sich-Mühen, aber auch das, was wortlos zwischen den Menschen passiert, mit Blicken und Gesten, das ist das große Thema von Jürgen Böttchers Dokumentarfilmen. In einem Interview mit Günter Gaus sagt er, all diese Filme seien seine soziale und politische Huldigung an die vielen Menschen, die das produzieren, wovon unser alltägliches Leben abhängt.
Die Filmreihe im Berliner Babylon zeigt hierzu „Ofenbauer“ (1962), „Silvester“ (1963) und „Rangierer“ (1984), alles Filme, die schwere Männerarbeit zeigen. Dass die Frauen in der DDR dem jedoch in nichts nach standen, verdeutlichen die Filme „Stars“ (1963), „Wäscherinnen“ (1972), oder „Die Küche“ (1987). Letzteres ist eine Dokumentation, die den 33 Frauen der Neptun-Werft in Rostock ein Denkmal setzt. Jeden Mittag waren sie für sage und schreibe 5000 Essen verantwortlich. Die Hitze, Dämpfe und Gerüche werden hier regelrecht spürbar. Absolut faszinierend auch die Schnelligkeit und Präzision ihrer Handgriffe. Bei all diesen Filmen arbeitet Böttcher dankenswerterweise nie mit Kommentierungen oder Fragen „aus dem Off“. Es gibt keinen ideologischen Überbau und keinen didaktischen Zeigefinger. Ob man der vor allem von linken westdeutschen Kreisen erhobenen Kritik einer „Ästhetisierung der ausgebeuteten Arbeiterschaft“ folgt, wirkt dabei eher wie aus der Zeit gefallen. Heute würde man in eher Theorie lastigen Diskursen davon sprechen, dass es Böttcher um Performanz geht, um das Thema „Körper im Raum“.
Der Höhepunkt des Programms ist der einzige Spielfilm, den Jürgen Böttcher je gedreht hat. 1966 verschwand „Jahrgang 45“ bereits im Rohschnitt im sogenannten Giftschrank der DDR. 24 Jahre sollte es dauern bis der Film fertiggestellt werden konnte. Doch die Bilder atmen immer noch eine Frische und Direktheit aus, die einfach umwerfend ist. Böttcher filmte nicht nur mit für damalige DEFA-Konventionen ungewöhnlichen Methoden, sondern auch der Inhalt des Films war nicht „auf Linie“. Er drehte in seiner unmittelbaren Wohngegend, in den ungeschönten Häusern des Prenzlauer Bergs, in seinem Milieu, zum Teil auch mit Laiendarstellern. Die Atmosphäre, die der ganze Film ausstrahlt, ist letztendlich aber viel entscheidender als die eher unglücklich verlaufende Beziehungsgeschichte zwischen Al und Li, den beiden Hauptfiguren des Films. Es geht um jungen Leute, die damals 20-Jährigen, ihre Langeweile, ihr Rebellentum, ihre Träume, ihre Freundschaften. Der Film erinnert nicht nur an den italienischen Neorealismus, oder an frühe Filme von Milos Forman, sondern unwillkürlich denkt man auch an Godards „A Bout de Souffle“. Das Schnelle, Spontane, vor allem das vollkommen Ungekünstelte, nicht zuletzt auch die unglaubliche Präsenz der Schauspieler, die sparsamen Dialoge und die raffiniert eingesetzte Musik verfehlen nach wie vor ihre Wirkung nicht. Wie die jungen Männer auf der markanten Treppe am Gendarmenmarkt herumlungern und dabei beobachten, wie ein West-Bus seine arroganten mit Kameras bestückten Touristen ausspuckt, ist nur einer der vielen starken Momente des Films.
Leider war es Jürgen Böttcher nie mehr vergönnt einen Spielfilm zu drehen. Doch all der Widrigkeiten zum Trotz, ein Unbeirrbarer ist er Zeit seines Lebens geblieben. Mittlerweile sind sowohl Jürgen Böttcher als auch Strawalde mit vielen Preisen und Auszeichnungen versehen worden.
Was den Künstler jedoch mehr als alles andere ehrt und hervorhebt ist, dass er trotz all der vielen Schrecklichkeiten, Verletzungen und Kränkungen nie den Blick auf das Schöne verloren hat. Letztendlich sind all seine Filme vor allem von dem getragen, was laut Hannah Arendt uns überhaupt erst zu Menschen macht, nämlich die Liebe zur Welt.
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P.S. Absolut sehenswert sind auch die Filme „Die Mauer“ (1990), ein prämiertes Zeitdokument über die letzten Tage der Berliner Mauer, „Barfuss und ohne Hut“ (1964), über eine Gruppe Jugendlicher, die ein paar unbeschwerte Tage an der Ostsee verbringen, „Martha“ (1978) ein berührender Film über eine Berliner Trümmerfrau, oder „In Georgien“ (1987), ein filmisch- experimenteller Erlebnisbericht über eine Reise in ein längst verschwundenes Land.
Daniela Kloock
Programm babylonberlin
© screenshot website babylonberlin.eu
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Bild ganz oben:
Jürgen Böttcher (2009) | Publikumsgespräch mit Jürgen Böttcher zu seinem Film „Die Mauer“ im Zeughauskino Berlin, 28.05.2009 | Author: Franz Richter (User:FRZ) | CC BY-SA 3.0
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