BERLINALE: Eindrücke und Empfehlungen jenseits des Wettbewerbs (2) |
„Vorsichthalber sollten wir davon ausgehen, dass wir alle in Gefahr sind.“ |
Filme der BERLINALE, auf die dieser Satz zutrifft: |
SOMEWHERE OVER THE CHEMTRAILS ist eine Introspektion in das Universum eines kleinen tschechischen Dorfes. Seine Bewohner sind arg von Ängsten geplagt. Zunächst geht es nur um die Luftverschmutzung, das giftige Kerosin der Flugzeuge, die pausenlos am Himmel kreuzen. Besonders der etwas tapsige und begriffsstutzige Standa ist beunruhigt. Im Internet hat er sich kundig gemacht und herausgefunden, dass Essig helfen soll. Fortan besprüht er damit alles, nächtens auch den beeindruckenden Bauch seiner schwangeren Frau. Eine harmlose Paranoia ist das, die für einige grotesk-komische Szenen sorgt. Doch als ein Van in die Osternfeiernde Gemeinschaft rast, und der Fahrer unerkannt flüchten kann, wird es dramatisch. Für Bronya, den Chef der freiwilligen Feuerwehr, zu der auch Standa gehört, ist sofort klar: hier hat ein terroristisches Attentat von Moslems stattgefunden. Das Dorf muss abgeriegelt und geschützt werden. Und so mutiert die kleine Truppe der Freiwilligen Feuerwehr, unter Bronyas Aufsicht, zu einer paramilitärischen Einheit. Alsbald erhält sie Verstärkung von glatzköpfigen jungen Männern.
Der Regisseur, Adam Koloman Rybansky, will in seiner „Dramödie“ – vielleicht manchmal etwas zu willentlich – zeigen, wie schnell sich Menschen durch Medien manipulieren lassen, wie leicht es wortmächtigen Anführern gelingt, Rassismus und Ausschreitungen zu befeuern. Dass ausgerechnet Feuer-Wehr-Männer ein solches Handeln initiieren, hat große Vorbilder. Man denke an Francois Truffauts „Fahrenheit 451“ (Buch: Ray Bradbury). Hier waren es Feuerwehrleute, die Bücher verbrennen, also auch andere Sichtweisen vorsätzlich eliminieren. Rybansky jedoch verfilmt keine Buchvorlage, sondern eigene Ideen. Erklärtes und ambitioniertes Ziel des Regisseurs ist außerdem, Komödien zu politisieren. Dabei steht er in der Tradition des tschechischen Altmeisters Jiri Menzel, dessen 1969 gedrehter Film „Lerchen am Faden“ im Rahmen der Berlinale Classics gezeigt wird. „Somewhere over the Chemtrails“ (Originaltitel: „Kdyby Radsi Horelo“) ist der Abschlussfilm des Regisseurs von der FAMU, einer der nach wie vor besten Filmschulen der Welt. Ein schöner Erfolg also für den jungen, noch völlig unbekannten Macher, seinen Film, der im übrigen unter schwierigsten Bedingungen während der Pandemie gedreht wurde, auf der Berlinale vorstellen zu können (Panorama).
Besonders begeistert hat mich neben der Kamera von Matěj Piňos, Michal Isteník, der den Standa bis in die kleinste Geste hinein kongenial spielt. Er ist ein Favorit für einen Darstellerpreis.
WIR KÖNNTEN AUCH GENAUSO GUT TOT SEIN, ein Titel der sofort Aufmerksamkeit generiert, und in dem es auch um Ängste und deren Manipulierung geht, eröffnet die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“. Der Film, der eine Sozialsatire sein soll, spielt in einer orwellesken Szenerie. Ein vollkommen abgeschirmtes Hochhaus, als vermeintlicher Ort der totalen Sicherheit, beherbergt eine krude, paramilitärisch ausgewählte Hausgemeinschaft. Wer hier wohnen darf wird streng selektiert und hat sich rigiden Regeln zu unterwerfen. Vor allem muss eines eingehalten werden: Gefühle komplett zu unterdrücken.
Bespitzelung und Misstrauen, Isolation und Zwanghaftigkeit bestimmen die gesamte Atmosphäre. Wer sich nicht einfügt, wird ausgestoßen, muss hinaus in den Wald. Was dort jedoch genau lauert bleibt im Unklaren.
Der Film folgt im wesentlichen seiner Hauptfigur Anna. Sie ist die Sicherheitsbeauftragte und soll für Ruhe und Ordnung sorgen. Als der Hund des Hausmeisters verschwindet, kippt plötzlich die Stimmung. Am Ende wird es dazu kommen, dass Anna und ihre Tochter, die meint den bösen Blick zu haben, das Hochhaus verlassen müssen.
Die Regisseurin Natalie Sinelnikova setzt ihre Figuren in eine aussichtslose Welt, die keine Hoffnung, keinen Halt und keine Freude kennt. In nur wenigen Szenen wird der dumpf-dunkle Grundton des Films gebrochen. Eine düstere Parabel ist das wohl eher als eine angekündigte Sozialsatire. Denn der Film bleibt seiner eindeutigen Message durchgehend treu: Es gibt keinen Schutz weder vor der Natur, noch vor den Menschen. Alles ist per se Gefahr, unkalkulierbar und erbarmungslos.
KLONDIKE ist ein Zwei- bzw. Dreipersonenstück, die „Bühne“ ein zerschossenes Haus in der Donbass Region. Die hochschwangere Irka lebt mit ihrem Mann Tolik direkt an der russisch- ukrainischen Grenze. Der Film beginnt mit einem Bombeneinschlag. Das Wohnzimmerfenster, über welches beide gerade noch geredet haben – „… wir wollen auch ein Panoramafenster, wie die es in Europa haben.“ – ist jetzt nur noch ein riesiges Loch. Es gibt den Blick auf eine weite Ebene frei, die zum Kriegsschauplatz wird. Wir sind im Jahr 2014. Ein Passagierflugzeug der malaysischen Airline wird versehentlich durch russische Abwehrraketen abgeschossen. Die Trümmer liegen verteilt in der Landschaft.
Dieses Ereignis verschärft die vorhandenen Konflikte. Irka, die ihrem Mann zunehmend misstraut, soll eigentlich möglichst schnell in ein Krankenhaus gebracht werden. Auch ihr Bruder, der plötzlich auftaucht, versucht sie davon zu überzeugen. Doch Irka (herausragend gespielt von Oxana Cherkashyna) will auf keinen Fall ihr Haus verlassen. Sie ignoriert die näherrückende militärische Bedrohung, melkt stattdessen die Kuh oder wischt den Staub von der Fototapete. Außerdem versucht sie Tolik und den Bruder zu versöhnen, denn die beiden sind sich spinnefeind. Während Tolik mit den Russen bzw. den Separatisten fraternisiert, wobei unklar bleibt, ob aus Angst oder aus Überzeugung, stehen Irka und ihr Bruder auf der Seite der Nationalisten. Der Krieg und die existentiellen Gefahren rücken immer näher. Die Männer werden es nicht überleben. Und Irka schafft es ganz alleine, ihr Kind zur Welt zu bringen.
Maryna Er Gorbach, die Regisseurin des Films, die auch für Drehbuch und Schnitt verantwortlich war, erzählt ein gleichermaßen sparsames, wie sensibles Familiendrama. Wie entscheiden sich Menschen, wenn die Welt auseinander zu brechen droht? Wie kann Widerstand gegen Gewalt aussehen? Irka ist hierfür ein beeindruckendes Beispiel. Ihre Resilienz hat gleichermaßen komische, wie dramatische Seiten. Lange, weite Einstellungen (Kamera: Svyatoslav Bulakovskiy), das präzise Erzählen, die hervorragenden Schauspieler und die Regie, die allen Figuren gleichermaßen Empathie entgegenbringt, hinterlassen einen starken Eindruck. Klondike, der im Januar bereits beim Sundance Film Festival ausgezeichnet wurde, sollte man keinesfalls verpassen (Panorama).
Daniela Kloock
Bild ganz oben: Irgendwo über den Chemtrails (Regie: Adam Koloman Rybansky) | CZE 2022, Panorama | © Bratri
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