Daniela Kloock schrieb im Mai 2018 über einen ihrer letzten Filme auf getidan:
Augenblicke: Gesichter einer Reise (Regie: Agnès Varda)
Agnès Varda ist die charismatische Königin des französischen Kinos. Sie hat fast den kompletten Männerreigen der Nouvelle Vague überlebt, Truffaut, Chabrol, Rivette, Resnais, Rohmer – nur einer ist noch geblieben, Jean-Luc Godard. Doch im Unterschied zu ihm, der sich am Genfer See verschanzt, ist Agnès Varda nach wir vor weltoffen und enorm mobil. Fast zeitgleich zu ihrem 90. Geburtstag, sie wurde am 30. Mai 1928 in Brüssel geboren, kommt ihr bereits in Cannes prämierter Film „Visages, Villages“ (deutscher Verleihtitel: Augenblicke – Gesichter einer Reise) in die deutschen Kinos.
„Visages, Villages“ ist eine Co-Produktion. Die Erste überhaupt von Agnès Varda. Dabei gibt es kaum etwas, was sie noch nicht gemacht hätte. Ursprünglich von der Theaterfotografie kommend, produzierte sie ihren ersten Film „La Pointe-Courte“ (1954) mit eigenen Mitteln und ohne je eine Filmschule besucht zu haben. „Cléo de 5 à 7“ (1961) machte sie über Nacht einem breiteren Publikum bekannt und zählt zu den Klassikern der Nouvelle Vague. Den Goldenen Löwen in Venedig erhielt sie 1986 für „Sans toit ni loi“ („Vogelfrei“), mit der jungen Sandrine Bonnaire. Mittlerweile ist die Liste ihrer Preise und Ehrungen lang, Palmen in Cannes, Leoparden in Venedig, ein europäischer Filmpreis für ihr Lebenswerk und zuletzt, 2017 der Ehrenoscar, der sie so freute, dass sie mit Angelina Jolie auf der Bühne zu tanzen begann. Agnès Varda hat wirklich alles gedreht, Dokumentarisches, viele Spielfilme und sämtliche Mischformen dazwischen. Seit einigen Jahren arbeitet sie vermehrt mit Installationen, bei denen sich Fotografisches, Filmisches und Räumliches mischen. (Bis 9. Juni sind diese Arbeiten in der Galerie Nathalie Obadia in Paris zu sehen). Immer geht es der Künstlerin dabei um die Fragen, was ist wirklich, was sehen wir, und vor allem wie, und wie können Phantasien angeregt werden? Nach wie vor versteht sie sich in der Tradition der Surrealisten – immer auf der Suche nach offenen Stellen, durch die die Welt des Traums und der Gefühle Resonanz erhalten.
Für „Visages/Villages“ hat sie sich zusammen mit dem 34 jährigen Streetart-Künstler JR aufgemacht die französische Provinz zu durchqueren. Die Reise des ungleichen Paares – JR hipstermäßig mit dunkler Brille, groß und agil, Varda mit ihrem zweifarbigen Topfschnitt, klein, verschmitzt und nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen – beginnt im Norden. Die beiden sind mit einem mobilen Fotolabortransporter unterwegs. Mit diesem Spezialfahrzeug, eine Art gigantischem Fotofix-Automat, hat JR schon die ganze Welt bereist. Bekannt wurde der Künstler 2005, als er seine eindrucksvollen Portraits aus Pariser Banlieus als großflächige Poster an Hochhäusern und Brücken anbringen ließ. Sein Spiel mit Proportionen und Formaten, seine narzistische Lust an der Größe erzeugen irritierende öffentliche Räume. Die alltägliche Wahrnehmung kommt ins stolpern. Innen und Außen, Groß und Klein verkehren sich. Häufig koppelt der Künstler seine Aktionen auch mit explizit politischen Botschaften. So durchquerte JR (das Kürzel steht für „Juste Ridicule“) mit seinem Foto-Truck sieben Länder und portraitierte Frauen, die in Slums leben („Women are Heroes“), oder plakatierte in einer spanischen Hafenstadt die Gesichter von Menschen deren Wohnungen geräumt werden sollen, um Bauplätze für Bürohochhäuser zu schaffen.
Es wundert also nicht, dass „Visages,Villages“ mit dem Portrait einer alten Frau beginnt, die sich weigert ihr Haus zu verlassen. Sie ist die letzte Bewohnerin in einer Straße einer ehemaligen Bergarbeiterstadt. Während sie von sich erzählt, vom harten Leben ihrer Eltern und Großeltern unter Tage, wird ihr Konterfei als riesiges Paste–Up auf ihr Haus appliziert.
Alle Reisebegegnungen, alle circa 12 „Anekdoten“ oder Stationen, sind zufällig. „Der Zufall war immer mein bester Ratgeber“, sagt Agnès Varda, und es ist erstaunlich, wie vollkommen unbekannte Menschen sich der Kamera öffnen, wie sie von ihren Sorgen und Ängsten, von ihren Spleens und Hoffnungen erzählen. Quasi unter der Hand, spielerisch leicht, entsteht ein soziologisches Portrait unterschiedlichster Milieus und Lebensformen. Und quasi unter der Hand werden all die Portraitierten zu Helden des Alltags: die engagierte Ziegenbäuerin, die junge Kellnerin, der Postbote, die Arbeiter einer Salzfabrik, Frauen von Dok-Arbeitern in Le Havre, ein 75-jähriger Überlebenskünstler, ein Glöckner – ja, so etwas gibt es noch in Frankreich – ein erfolgreicher Bauer. Sie alle werden, appliziert auf Wände, Mauern, Tore, auf aufgetürmte Container, Ruinen, für einige Zeit „bigger than life“. All diese ganz normalen Menschen, über die sonst niemand berichtet, die in keinem Film vorkommen, werden groß, wie sonst nur die Stars auf Reklamewänden oder in früheren Zeiten die Götterstatuen.
Doch so wie Filmbilder im Erscheinen verschwinden sind auch die Paste-Ups nicht für die Ewigkeit gemacht, sie verwittern, vergehen. Und so lautet die Botschaft, die uns die kleine Königin mit auf den Weg geben will: bittersüß ist die Wahrheit, dass besondere Momente nur von kurzer Dauer sind. Es sei denn, sie bleiben im Gedächtnis, wie eben dieser wunderbare Film.
Daniela Kloock
Bilder: Weltkino
Originaltitel: Visages Villages
Frankreich 2017, 93 min
Genre: Dokumentarfilm
Regie: Agnès Varda, JR
Drehbuch: Agnès Varda, JR
Kamera: Claire Duguet (Bonnieux, Reillanne, Usine), Nicolas Guicheteau (Paris, Usine, le Nord), Valentin Vignet (BnF, côte Normande), Romain Le Bonniec (Vexin, Le Havre, Pirou), Raphael Minnesota (Musée du Louvre), Roberto De Angelis (Cuisine, Suisse), Julia Fabr
Schnitt: Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia
Musik: Matthieu Chedid aka -M-
Produktion: Ciné Tamaris, Social Animals, Rouge International, Arte France Cinéma, Arches films
Preise: Oscars 2018: Nominierung Bester Dokumentarfilm Independent Spirit Awards 2018: Auszeichnung Bester Dokumentarfilm César 2018: Nominierung Bester Dokumentarfilm und Beste Filmmusik
Kinostart: 31.05.2018
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