Premières Solitudes | Frankreich 2018 | Regie: Claire Simon
Die französische Regisseurin, Drehbuchautorin, Kamerafrau und Schauspielerin Claire Simon liebt Experimente. Und ihr gelingt in „Premières Solitudes“ ein kleines Juwel innerhalb der schier unüberschaubar gewordenen Masse an Filmen der Berlinale.
Tessa, Manon, Elia, Catia oder Hugo heißen einige ihre jungen Protagonisten, die das Lycée Romain Rolland in Ivry sur Seine bei Paris besuchen. In wechselnden Konstellationen und in verschiedenen Situationen – bei der Vertrauensärztin, auf der Parkbank im ersten Sonnenschein des Frühlings, auf einer Mauer beim Gitarrenspiel oder einfach nur auf dem Fußboden vor dem Klassenzimmer – sprechen die Jugendlichen von ihren Familienerfahrungen, ihren Ängsten, ihren Zukunftswünschen und ihrer ersten Liebe. Wir erfahren viel Intimes über die Einsamkeit von Scheidungskindern (kaum einer der Jugendlichen hat zu hause noch ein Gegenüber), über Kindheit in Nigeria, oder darüber, was es heißt mit 16 oder 17 Jahren ganz allein auf sich gestellt zu leben, weil es einfach niemanden auf dieser Welt gibt, der noch da ist. Wie es der Regisseurin gelingt Räume und Nähe zu schaffen, so dass diese jungen Menschen erstaunlich tiefsinnig und angstfrei über sich selbst und ihre Probleme sprechen, ist schier unglaublich. So erzählt ein Mädchen ganz direkt von ihrer schizophrenen Mutter, von ihrem Vater, der Selbstmord beging, und von ihren grausamen Großeltern. Man wünscht ihr inständig, dass sie die Stärke haben möge aus ihrem Leben noch das Beste zu machen. Auch Hugo, ein verschlossener Junge, dem es sichtlich schwerfällt über seine Sorgen Auskunft zu geben, kommt einem nahe. Wenn er anfängt unter Tränen von seinem abwesenden und abweisenden Vater zu erzählen und die zwei Mädchen, die mit ihm zusammensitzen, ihn immer wieder ermutigen weiter zu sprechen, so sind das wirklich innige, intensive und authentische Momente – so ganz anders als die vielen, größtenteils eigentlich unnötigen Sexszenen, die man laufend serviert bekommt. „Premières Solitudes“ jedenfalls – sensibel gedreht und klug montiert – ist ein berührend schöner Film.
Mes Provinciales | Frankreich 2018 | Regie: Jean Paul Civeyrac
Jean Paul Civeyrac hat zusammen mit Claire Simon bis 2010 die größte und bedeutendste Filmabteilung Frankreichs „La Fémis“ geleitet und gilt als wichtiger Vertreter der „neuen“ französischen Nouvelle Vague. Es wundert also nicht, dass es in seinem Film „Mes Provinciales“ ums Filmemachen geht. Drei junge Männer aus der Provinz, Etienne, Jean-Noel (der redet wie Godart, aber es nicht schafft Filme zu drehen und am Ende dramatisch scheitert) und Mathias lernen sich auf der Filmhochschule in Paris kennen und freunden sich an. Etienne ist die Hauptfigur. Der Film folgt in weiten Teilen seinem Leben, seinem Ankommen in der großen Stadt, seiner Orientierungslosigkeit und seinen Selbstzweifeln. Allen Dreien fällt es gleichermaßen schwer, sich als Filmemacher zu definieren, noch dazu weil sie sich ständig mit den ganz Großen der Filmgeschichte vergleichen. Civeyrac verhandelt in schönen, ruhigen schwarz-weiß Bildern, die wirklich an die Nouvelle Vague erinnern, die philosophischen, politischen und ästhetischen Fragestellungen der Studenten. Sie lesen und diskutieren vorzugsweise Novalis, Blaise Pascal (auf den der Titel verweist), aber auch Pasolini. Sie hören viel klassische Musik , hauptsächlich Bach, rauchen Kette, sitzen in Cafés und haben Affären mit vielen schönen Frauen. Der Film, der über zwei Stunden dauert, ist literarisch in 4 Kapiteln aufgebaut, welche die vier Lebensabschnitte von Etienne verdeutlichen. Alles ist sehr artifiziell erzählt, vielleicht etwas zu artifiziell, zu langatmig und zu selbstverliebt. Schön ist jedoch, dass der Film seltsam aus der Zeit gefallen ist – aus einer Zeit, in der es beim Filmemachen jedenfalls noch wirklich um etwas ging.
Danielea Kloock
Bild ganz oben: Premières Solitudes | Young Solitude | Claire Simon | © Sophie Dulac Productions
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