Ex Pajé | Brasilien 2018 | Regie: Luiz Bolognesi
Die Kultur der indigenen Völker ist überall auf der Welt bedroht. So auch im brasilianischen Regenwald. Seit 1969 sind die im Amazonasbecken lebenden Indianer mit den sogenannten Errungenschaften der westlichen Welt konfrontiert. Statt mit der Natur zu leben wird an dieser Raubbau betrieben und was die ökonomischen Interessen nicht schaffen erledigt dann die Macht der Kirche. Übrig bleibt den Menschen dort nicht viel. Wie zerstörerisch und absurd dies alles ist zeigt der Film „Ex Paje“. Der ehemalige Schamane, genannt Perpera, muss in übergroßen westlichen Klamotten und mit schief sitzender schwarzer Krawatte eine Art Hausmeisterdienst in der Kirche machen. Wäre er dem Schamanismus treu geblieben hätte ihn die Dorfgemeinschaft verstoßen. Nachts wird er von Alpträumen heimgesucht, weil er seinen ursprünglichen Glauben aufgegeben hat. Erst als eine Frau aus dem Dorf von einer giftigen Schlange gebissen wird und tagelang im Krankenhaus im Koma liegt, besinnt er sich auf seine alten Fähigkeiten. So wird er zum Grenzgänger zwischen stiller Unterwerfung und gezielter Bewahrung der alten Lebensweisheiten, die er in rührend kurzen Szenen einem kleinen Jungen versucht nahe zu bringen. Ein stiller, einfühlsamer Film, der fast ethnografisch das Leben und die Konflikte der Menschen in diesem Dorf dokumentiert, und deren tiefe Verbindung zu einer unberechenbaren, wilden Natur nachvollziehbar macht.
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O Processo | Brasilien / Deutschland / Niederlande 2018 | Regie: Maria Augusta Ramos
„O Processo“ oder im englischen Verleihtitel „The Trial“ ist ein Film der brasilianisch-niederländischen Dokumentarfilmerin Maria Augusta Ramos über einen Staatsstreich. Über den Putsch, der zur Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rouseff führte. 2016 mußte sie zurücktreten, weil sie angeblich in Korruptionsaffären verwickelt war. Der Film folgt dem Prozeß ihrer Anklage. Viele Personen treten auf, Senatoren aus beiden Lagern, Politiker unterschiedlicher Parteien. Sie alle liefern sich große Redeschlachten. Emotionen werden kalkuliert ausgespielt, vieles wirkt wie Theater. Ramos nimmt dabei eindeutig die Position des Verteidigerteams ein. Die Regisseurin ist nah dran an ihren Protagonisten, wobei man als nicht brasilianischer Zuschauer stellenweise schon Probleme hat die Personen richtig zuzuordnen. Gut nachvollziehbar ist jedoch die Erschöpfung und Aussichtslosigkeit derjenigen, die für mehr Gerechtigkeit, Transparenz und echte Aufklärung kämpfen. Der Film vermittelt in seiner Gesamtheit sehr präzise die politischen Zustände in einem Land, in dem demokratische Regeln aufgehoben sind oder vielleicht sogar nie existiert haben. Beobachtend und ohne Kommentare zeigt Maria Augusta Ramos die Strukturen der Macht, aber auch die vielen kleinen Momente und Details, die den politischen Alltag bestimmen, wie viele und unendlich lange Telefonate, aber auch einmal kurze Ruhepausen, wo einfach nichts geschieht. Immer wieder werden auch Bilder eingefügt die die Architektur der von Oscar Niemeyer entworfenen Regierungsgebäude in ihrer kalten Grandiosität zeigen. Ganz selten kommt auch Dilma Rousseff selbst vor die Kamera, professionell und mit immer gleichbleibender Miene scheint sie das absurde Theater zu verfolgen, nimmt entgegengestreckten Nelken und Rosen an und schreitet zur nächsten Versammlung. Offensichtlich wissend was da gespielt wird macht sie „bella figura“, wohl ahnend dass alles kein gutes Ende nehmen wird …
Nach den preisgekrönten Filmen „Justica“ und „Juizo“ von Maria Augusta Ramos ist dies wieder ein Film bei dem die Regisseurin ihr Können unter Beweis stellt. 2013 erhielt sie bereits einen Preis für ihr Gesamtwerk und ihre herausragende Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte.
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Tinta Bruta | Brasilien | Regie / Buch: Filipe Matzembacher / Marcio Reolon
„Tinta Bruta“ spielt in Porto Alegre. Doch der Film zeigt nicht die schönen Seiten der am Meer gelegenen nördlichen Stadt Brasiliens. Die Hauptfigur Pedro lebt isoliert in einer grauen Hochhaussiedlung. Vor seiner Webcam verwandelt er sich in einen NeonBoy, der keine Scheu hat in schwulen Chatrooms zu performen. In dieser Anonymität gelangt er mit seinem leuchtenden jungen Körper zu gewisser Berühmtheit und einem kleinen Einkommen. Bis ein Konkurrent auftaucht. „
Leo, der als Tänzer ausgebildet ist und wesentlich professioneller agiert, hat auch die Neonfarben für sich entdeckt. Die beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten – Leo charismatisch, agil , von netten Freunden umgeben und Pedro, der keinerlei sozialen Kontakt hat und nicht weiß wohin mit seinem Leben – lernen sich kennen und bald auch lieben. Denn Leo versteht es sich in Pedro und seinen Autismus einzufühlen.
Bereits 2015 waren Matzembacher und Reolon im Forum der Berlinale vertreten, „Seashare“ hieß ihr Film. Auch hier ging es bereits um das Thema sexuelle und soziale Identitätsfindung und das Leben schwuler Männer in Brasilien. „Tinta Bruta“ will außerdem zeigen, wie die Chatrooms immer stärker die live Begegnungen ersetzen.
Wer pathetische Musik und pathetische Bilder liebt – immer wieder sehen wir die neon-pink farbenen Münder, die pinkfarbenen Augenränder, die gelben Zungen und dann und wann auch den bunt tropfenden Speichel – wer angezogen wird von Pedros ewig traurigen Blick, immer in close ups, wer einstimmt in die Bilder der abweisenden Alltagswelt Porto Alegres, der wird bei diesem Film auf seine Kosten kommen. Wer dem nicht folgen kann, wird hier vielleicht auf das Label Kitsch kommen.
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Obscuro Barroco | Frankreich / Griechenland 2018 | Regie: Evangelia Kranioti
Ein Film der als traumwandlerischer Essayfilm angekündigt wird und im Nachtleben von Rio de Janeiro spielt klingt vielversprechend. Noch dazu wenn er von einer Regisseurin stammt, die bereits durch interessante Projekte aufgefallen ist. Evangelia Kranioti ist eine griechische Künstlerin, deren vielfach ausgezeichnete Arbeiten zwischen Film, Installation und Fotografie changieren. Bereits 2015 war sie mit dem Film „Exotica Erotica“ auf der Berlinale vertreten. An 16 Häfen dieser Welt und auf offener See sammelte sie Stimmen und Stimmungen von Seeleuten, Hafenarbeitern und Prostituierten. Aus den O-Tönen und den tagebuchartigen Bildimpressionen montierte sie eine eigenwillige Collage.
„Obscuro Barroco“, der Film, der jetzt auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, ist ähnlich angelegt. In der Zeit der Olympischen Spiele 2016, während des Karnevals und während politischer Manifestationen gegen den Putsch, der zur Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseffs führte, realisierte sie ihre Aufnahmen. Zwei Protagonisten führen durch den Film. Ein schweigender weißer Clown, der durch die Straßen schweift und dessen Bedeutung bis zuletzt unklar bleibt, und Luana Muniz, die queere Subkultur Ikone, die 2017 verstarb. Sie war die „raina da Lapa“, brasilianische Vollzeitaktivistin für die Rechte der LGBT Bewegung, Gründerin zahlreicher Initiativen, Sexarbeiterin, und berühmte Travestiekünstlerin. Ihr nun werden Worte in den Mund gelegt, die größtenteils nicht ihre eigenen sind. Clarice Lispector, die bedeutendste jüdische Autorin nach Kafka – wie die Literaturkritik hierzulande erst jüngst wieder betonte – wird als Stichwortgeberin benutzt um das Thema der Regisseurin in Worte zu fassen. Kranioti geht es um das existentielle Über-etwas-hinausgehen, um Transgender, Transgression, Transformation, und damit um das Aufbrechen gesetzter kultureller Regeln und Konventionen – sei es körperpolitisch, gesamtgesellschaftlich oder künstlerisch. Dabei scheint ihr im Versuch Grenzen zu verwischen Barock als Stilepoche paradigmatisch.
Ihr „Obscuro Barroco“ scheitert dann aber grandios. Die Handkamera, in den Turbulenzen der nächtlichen Karnevalsumzüge, liefert massenhaft unscharfe Bilder, die auf der großen Kinoleinwand – noch dazu in einem IMAX Kino der Berlinale – einfach nicht funktionieren. Auch die Nahaufnahmen, das permanente Entlanggleiten an Kostümen und Masken sind auf Dauer eine Zumutung für die Augen und werden dem Anspruch einen Film zum Thema Transgression zu machen in keinster Weise gerecht. So wie Kranioti es hier in weiten Teilen versucht, könnte man auch jede alemannische Fasnacht filmen und als Trans-Thema verkaufen. Da helfen nur ein bedeutungsschwerer Text um das Ganze nicht banal werden zu lassen und Szenen, die Nachtgestalten zeigen, die keinem eindeutigen Geschlecht mehr zuzuordnen sind …
Man fragt sich auch, was diese permanenten HNO Bilder von Luana Muniz sollen, deren Hommage der Film wohl eigentlich sein soll / will. Rio sei eine „Fabrik der Träume und Alpträume“ sagt sie zu Beginn des Films, als die Kamera über den Regenwald streift um dann den Blick auf das nächtliche Rio freizugeben. Dabei versinken die dunklen Bildanteile in dumpfen Schwarz während die hellen Lichter alles überstrahlen – eine kleine Handkamera generiert eben keine Kinobilder!
Vermutlich funktioniert das ganze Projekt sowieso eher im Galerienkontext auf kleinen Monitoren und mit einzelnen Sequenzen, die die Muniz Hommage und den Karnevalsteil voneinander trennen. Die existenz-philosophischen Exkurse der Clarice Lispector mit Aussagen von Luana Muniz zu kombinieren ergeben jedenfalls in der Summe eine überfrachtete, kaum zu ertragende Wortsoße. Auch die Figur des Clowns, der sich am Ende des Films zwischen die gigantischen Brüste einer Figur eines aufgegebenen Umzugswagens legt, ist nur schwer aushaltbarer Kitsch.
Daniela Kloock
Bild ganz oben: Ex Pajé / Ex Shaman | Brasilien 2018 |
Berlinale Panorama | Regie: Luiz Bolognesi | © Pedro J. Marquez
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