So weiß wie Schnee, so rot wie Blut … – ein modernes Märchen aus Ungarn
Für eine gleichermaßen zarte wie tragische Liebesgeschichte erhielt Ildikó Enyedi den Goldenen Bären der Berlinale 2017. Sie ist damit die – sage und schreibe – erst fünfte siegende Filmemacherin in der Geschichte dieses Festivals, welches seit 1951 existiert. Die Drehbuchautorin und Regisseurin ist in der Kinowelt keine Unbekannte. Sie kommt aus Ungarn und hat ihr Handwerk in den berühmten Balázs Béla Studios gelernt. Für ihren Erstlingsfilm mit dem großen Titel „Mein 20. Jahrhundert“ erhielt sie schon 1989 die Goldene Kamera beim Festival in Cannes. Bereits damals verzauberte sie ihr Publikum mit gleichermaßen bizarren wie poetischen Regieeinfällen. Auch ihr neuster Film „On Body and Soul“ bzw. „Körper und Seele“ zeichnet sich durch einen auffallend unkonventionellen Stil aus. Der Film erinnert manchmal an Kaurismäki, nicht nur vom schrägen Humor und durchdachten Colorit her. Er verbindet scharf beobachtete Alltagsszenen mit sensibel entwickelten Psychogrammen moderner Menschen und bettet das Ganze in eine ziemlich unwahrscheinliche, märchenhafte Story. Märchen konfrontieren bekanntlich auf unterhaltende Weise mit dem, was wir verdrängen, verstecken, was wir übersehen oder schlicht ignorieren. Dazu gehört Schönes wie Schreckliches. Manche Zuschauer werden starke Nerven brauchen, nicht nur für die Szenen im Schlachthaus, wo die Liebesgeschichte beginnt, sondern auch für eine dramatische und sehr blutige Wende am Ende.
Doch zunächst beginnt der Film ganz harmlos. Grandios fotografierte Szenen zeigen einen rauschenden Winterwald in dem sich ein Hirsch und ein Reh begegnen. Sie beschnuppern sich vorsichtig, trinken an einer vereisten Quelle, leise fällt Schnee – eine Atmosphäre wie sie friedlicher und freier nicht sein könnte. Dann, dumpfe Geräusche, Scheppern und Gepolter, wenig später ein harter Schnitt. Hinterbeine von Kühen, ihre schwarz-weißen Leiber, ihre großen Augen und aufmerksamen Ohren. Wir sehen, durch Gitterstäbe verdeckt, was sie sehen: rauchende, schwatzende Männer in roten Overalls und eine helle, fast grelle Sonne. Für die Tiere das letzte Licht vor der Schlachtung.
Dieselbe Sonne bestrahlt auch die beiden Hauptfiguren, Maria und Endre. Endre ist der Chef des Schlachthofs, ein körperbehinderter bärtiger Mann um die Sechzig, müde und undurchschaubar. Er wirkt so als habe er schon viel gesehen und erlebt. Maria, die als Qualitätsprüferin gerade eingestellt wurde, ist jung, eine Porzellanfigur, aber zwanghaft – jeder Krümmel ist ihr ein Greuel – und überkorrekt, was ihr keine Sympathien einbringt. Und sie ist psychisch massiv gehandicapt. Sie hat nicht nur Panik bei Berührungen, sondern Angst vor jeglichen sozialen Kontakten. Endre – nomen est omen – steht als Figur für ein ge- oder verlebtes Leben, Maria für ein noch nicht begonnenes. Schneewittchen wird sie von Arbeitskollegen genannt, so erstarrt und unnahbar wirkt sie auf andere, ein sie erlösender Prinz weit und breit nicht in Sicht. Beide leben allein, in (Wohn)Welten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Doch dann kommt es zu einem Betriebs-Unfall und sie erfahren, dass sie jede Nacht denselben Traum haben. Es handelt sich dabei um die immer wieder eingeblendeten Wald-Sequenzen mit dem Rotwild im Schnee. Die Idee, dass zwei Menschen ein und dasselbe träumen und dann auch davon erfahren, war für die Regisseurin die Grundidee der Storyline. Als Trauminhalt den Wald zu wählen erscheint naheliegend. Im Märchen ist es der Raum des Wandels, der Prüfung, der Gefahren und der zauberhaften Veränderung, bedrohlich und gleichzeitig verheißungsvoll. Maria und Endre werden ihre Ängste überwinden, sich langsam annähern – ob das für beide eine gemeinsame Zukunft bedeutet bleibt offen.
Was den Film so einzigartig und faszinierend macht sind die Schauspieler, allen voran Alexandra Borbély als Maria, und die gekonnte Kamera (Maté Herbai), vor allem aber die Verbindung der unterschiedlichen Elemente und Themen. Nichts wird dabei vordergründig bewertet. Was wir als Zuschauer bereit sind aus dem Film herauszulesen bleibt uns überlassen. Ist es einfach eine ungewöhnliche Liebesgeschichte mit einem leicht verrückten Regieeinfall? Glauben wir an unerklärliche Verbindungen (auch in Träumen) zwischen Menschen? Oder weniger esoterisch gefragt: Wie mischt sich jeden Tag das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, das Verdrängte mit dem nicht-zu-Verdrängenden? Jede menschliche Beschädigung, aber platterdings auch jedes Kotelett auf dem Teller, welches gedankenlos verspeist wird, ist Ausdruck bzw. Ergebnis einer Abspaltung in Körper und Seele. So gesehen ist der Film auch eine Kritik an der modernen Gesellschaft mit all ihren impliziten Verwundungen und Zurichtungen, tierischen wie menschlichen.
Daniela Kloock
Bilder: © Alamode Filmverleih
_______
Ab 21. 9. 2017 m Kino
(es empfiehlt sich auf Grund unerträglicher Synchronstimmen die Originalfassung).
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Forum - 24. Februar 2024
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Panorama - 23. Februar 2024
- Herausragendes im Wettbewerb der 74. BERLINALE - 23. Februar 2024
Schreibe einen Kommentar