Zwischen Terror und Schönheit …
Ghost Hunting
Auffallend viele und teilweise starke Filme beschäftigten sich auf dem größten Publikumsfestival der Welt in diesem Jahr mit der Lebenssituation junger Menschen / Männer im arabischen Raum. Raed Andoni aus Jordanien beispielsweise hat in seinem Beitrag „Ghost Hunting“ ein heftiges Stück Erinnerungsarbeit geleistet. Er wurde in jungen Jahren in Moskobija, dem Verhörzentrum des israelischen Geheimdienstes, festgehalten und misshandelt. 30 Jahre später sucht er in Ramallah über eine Zeitungsanzeige andere ehemalige palästinensische Folteropfer, die zudem Erfahrungen als Handwerker, Architekten oder Schauspieler mitbringen, um das Erlebte aufzuarbeiten. Der Film beginnt mit dem Casting, welches selbst schon eine Form des Verhörs annimmt. Es folgen Szenen, in denen die Gefängniszellen in einer leeren Halle maßstabgetreu nachgebaut werden, und dann beginnt das eigentliche Experiment. Mit Techniken, die an das sogenannte Theater der Unterdrückten erinnern, wird real Erlebtes nachgespielt. Die Isolation, die Misshandlungen, die Psycho-Folter, die Todesangst – aber auch Geräusche, Stimmen, die ganze Atmosphäre in Moskobija werden reinszeniert. Ein veritabler Alptraum beginnt. Kein Wunder also, dass die nachgespielte Gewalt rasch in reale Quälerei umschlägt, die selbst den Regisseur mit einbezieht. „Ghost Hunting“ macht nicht zuletzt deutlich, was es bedeuten mag nach so einer Erfahrung nicht zum Intifada Kämpfer, zum Terroristen, zu werden – zu einem Menschen, der im Hier und Jetzt nicht mehr leben kann und will. Zu Recht erhielt dieser Aufsehen erregende und komplex gebaute Film den erstmals verliehenen Silbernen Bären für die beste Regie eines Dokumentarfilms.
Investigating Paradise
„Investigating Paradise“ gibt vor, die Jenseitsvorstellungen des Islam zu erkunden, vor allem aber geht es um die Verführungskraft der verheißenen 72 Jungfrauen – angeblich ja der wichtigste Köder zur Radikalisierung junger Männer. Der algerische Regisseur Merzak Allouache schickt hierfür zwei als Journalisten getarnte Schauspieler durch die unterschiedlichsten Milieus seiner Heimat. Immer dabei haben die beiden das Video des salafistischen Imams Chamseddine, der die paradiesischen Jungfrauen äußerst präzise beschreibt, ihre alabasterartige Haut, ihre schwarzen, glänzenden Haare, ihre wunderschönen Brüste, ihre klaren Augen. Die im Film vorkommenden Intellektuellen erklären die Faszination von Chamseddine, der eine Art Rockstar unter den islamistischen Predigern ist, damit, dass er mit seinen Worten haargenau die sexuelle Frustration der arabischen Jugendlichen trifft – sie sprechen von „Porno-Islamismus“. Leider aber wird das Video für die „Journalisten“ zum zwanghaften Vehikel. Die Interviewpartner sollen darauf reagieren. So werden unendlich viele und redundante, naive, verrückte, kritiklose, zuweilen auch unbeholfene Antworten gesammelt, die wohl dokumentieren sollen, wie sehr die sogenannte aufgeklärte Westkultur der islamischen Welt überlegen ist. Viele der fast ausschließlich jungen Männer plappern aber einfach in die Kamera hinein, finden es wahrscheinlich toll überhaupt selbst in einem Film vorzukommen. Ein besonders „kluger“ Einfall soll die Frage sein, was denn mit den Frauen ist, die ins Paradies kommen: was sollen die mit 72 Jungfrauen anfangen? Mich hat die ganze Vorgehensweise gestört, warum zwei Schauspieler als Journalisten? Warum über zwei Stunden immer wieder die Frage nach den Jungfrauen? Der Film interessiert sich an keiner Stelle dafür, wie viel dieses ausgeschmückte Bild mit der diesseitigen Perspektivlosigkeit zu tun hat, sexuell unbefriedigt sind die Männer auch hier. An keiner Stelle werden die Jugendlichen über ihr Leben befragt. Auch kein Wort über das grundsätzliche Dilemma, dass den jungen Menschen all die Verheißungen der sogenannten Moderne, die sie permanent durch die Medien vorgegaukelt bekommen, versagt sind, dass sie zwischen Tradition und Fortschritt keine Wege für sich sehen.
Auch warum die algerische Gesellschaft, der Staat, die politische Elite des Landes diese Form der Prediger-Propaganda zulässt, bzw. warum es keinerlei Gegenstrategien zu geben scheint? Besonders gestört aber hat mich das Berlinale Kinopublikum, welches sich über die Antworten unangenehm lustig machte. All denjenigen, die meinen, wir sind ach so auf- und abgeklärt empfehle ich den Film „Fragments du Paradis“(Stephane Goel), der die Jenseitsvorstellungen von Schweizern zum Thema hat. Hier kommt auch viel Abwegiges, Skurriles und Verrücktes ans Licht, jedoch werden die Interviewten nie der Lächerlichkeit preisgegeben und schon gar nicht werden implizite Wertungen zwischen religiösen Vorstellungen und jeweiligen Kulturen suggeriert. Ein unangenehmer Film, der nur Vor-Urteile bestätigt!
House in the Fields
Der Filmtitel von Tala Hadid (der Nichte der berühmten Architektin Zaha Hadid) „House in the Fields“ lässt falsches vermuten. Er spielt kaum in Innenräumen, vielmehr in der freien Natur. In einer von der sogenannten Zivilisation abgekoppelten dörflichen Gemeinschaft im Atlasgebirge Marokkos. Im Winter ist es dort so kalt, dass die Menschen kaum ihre Häuser verlassen, und die Kinder nicht zur Schule gehen können. „Doch mit dem Frühling kommt die ganze Schönheit des Lebens zurück.“ Dies sagt das 16-jährige Berbermädchen Khadija, eine der Hauptfiguren des Films. Ihre ältere Schwester Fatima soll am Ende des Sommers verheiratet werden, und es liegt Wehmut über der letzte gemeinsam verbrachten Zeit, im geteilten Bett, bei der Arbeit auf den Feldern und in der Natur. Khadija würde gerne Anwältin werden, wenn nur „die alten glatzköpfigen Männer“ sie ließen. So sitzt sie mit ihrer besten Freundin unter blühenden Mandelbäumen und philosophiert mit kindlicher Frische über das Leben, während ihre Schwester ängstlich in die Zukunft blickt. Sie kennt den Mann nicht, mit dem sie verheiratet wird. Sie muss ihr Dorf verlassen und mit ihm nach Casablanca gehen, wohin so viel junge Menschen, vor allem Männer, der Täler ziehen. „House in the Fields“ ist ein Film, der sich selbstbewusst gegen konventionelle Narrative wendet, indem er immer wieder sehr lange Einstellungen von auf alten Instrumenten spielenden Sängern einbaut, oder am Ende fast ethnografisch die Vorbereitungen der Hochzeit zeigt.
Die authentischen Bilder kommen dem gesetzten Ziel der Regisseurin sehr nahe: ein Leben festzuhalten bevor es verschwindet! Wie dort im hohen Atllas, wohin bis heute keine Straße führt, gelebt, gearbeitet, gefeiert wird, von all dem gibt der Film auf äußerst sensible Art Zeugnis. Dass die Regisseurin es geschafft hat, Zugang zu den Menschen zu finden spricht für sie. Ihr nächstes Projekt geht dem Vernehmen nach in eine ähnliche Richtung und ich freue mich schon jetzt auf den neuen Film von Tala Hadid.
Alyam, Alyam
Kaum zu glauben, dass einer der schönsten Filme aus dem arabischen Raum schon fast 40 Jahre alt sein soll. „Alyam, Alyam“ war 1978 in Cannes der erste Film aus Marokko, der je auf einem europäischen Festival gezeigt wurde. Ahmed El Maanouni, der Regisseur, erzählt im Programmheft wie der Film entstand: „Zunächst habe ich das Material gesammelt, kleine Anekdoten und Fakten aus dem Leben der Bauern in der Region von Casablanca. Als ich dann daran ging, das Mosaik des Films zusammenzustellen, habe ich mich an die Bauern gewandt und sie gebeten, mitzuspielen. Der Film bewegt sich zwischen ihren Erfahrungen und meinen Beobachtungen.“ Hauptperson ist der junge Abdelwahed, der in einem kleinen Dorf lebt und als Ältester seine verwitwete Mama und acht Geschwister ernähren muss. Schwere Feldarbeit, karger Lohn und keine Aussicht auf eine bessere Zukunft lassen ihn den Plan fassen, nach Frankreich oder noch weiter nach Nordeuropa zu gehen. Die Mutter will ihn verständlicherweise nicht ziehen lassen, doch am Ende verkauft er das einzige Kalb um seine Überfahrt zu finanzieren.
Man sieht die ganze Armut, ja, aber man sieht auch all die schönen Gesichter, hört die Gesänge der alten Männer und spürt den tiefen Frieden, in dem sie leben. Freundlich lachend sitzen sie wohl stundenlang in den Cafes und schlürfen ihren Tee. Die Brillianz der noch auf gutem alten Filmmaterial gedrehten Bilder und die elegante Montage des Films gilt es, dank der Restaurierung des Films, neu zu entdecken. Vor allem aber ist auch dieser Film ein Beitrag für einen unvoreingenommenen Blick auf die islamische Welt.
Bild ganz oben: Istiyad Ashbah | Ghost Hunting von: Raed Andoni
Panorama | FRA/ PSE/CHE/QAT 2017 | Les Films de Zayna, Arte France, Dar Films , Akka Films
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Forum - 24. Februar 2024
- Highlights der 74. BERLINALE in der Sektion Panorama - 23. Februar 2024
- Herausragendes im Wettbewerb der 74. BERLINALE - 23. Februar 2024
Schreibe einen Kommentar