Bilder, die im Verschwinden erscheinen – das ist Film. Fotografie dagegen hält fest, ist ein Moment von Dauer. Und wie bei einer Spur verweist die Fotografie über sich hinaus, stellt uns vor Rätsel oder läßt uns wundern. Immer jedoch bietet sie die Möglichkeit des Verweilen, des Gedenkens. Fotografen werden so zu Chronisten untergegangener Welten, vergangener Zeiten. Anläßlich von 30 Jahren Mauerfall und dem medialen Rückblick auf unsere sogenannte Wiedervereinigung leistet auch die Akademie der Künste einen dankenswerterweise stillen Beitrag zum Jubel-Jubiläum. Zu Ehren von Helga Paris öffnet sie ihre Pforten für eine große Retrospektive. Die 1938 bei Stettin geborene Künstlerin, deren Lebensweg über Goleniów und Zossen nach Ostberlin führte, zeigt annähernd 300 ihrer Arbeiten, darunter erstmalig zahlreiche Einzelbilder und Serien. Die ausschließlich in schwarz-weiss gehaltenen Fotografien ermöglichen intensivste Einblicke in die verschiedenen Lebenswelten der DDR, in vier Jahrzehnte (ost)deutscher Geschichte.
Einem Glücksfall ist es zu verdanken, daß Helga Paris Fotografin wurde. Denn eigentlich wollte sie studieren. Der befreundete Dokumentarfilmer Peter Voigt erkennt ihr Talent erkennt und ermutigt sie, sich zu professionalisieren. Anfänglich fotografiert sie hauptsächlich Familie, Nachbarschaft, die Gegend im Prenzlauer Berg. Sie begleitet fotografisch Theater- und Opernaufführungen, Modeaufnahmen, aber auch Stilleben entstehen. Aus dieser Werk-Phase wird leider nur eine Strandszenerie gezeigt, darauf ein Zelt, ein Fahrrad und ein Fisch mit merkwürdig aufgerissenem Maul. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt eindeutig auf den Portraits. Seien es ihre Kinder, Robert und Jenny, ihr Mann, der Maler und Grafiker Ronald Paris, oder einfache Arbeiter, Müllmänner oder Möbelträger, immer überträgt sich eine poetisch anmutende Präsenz. Die Bilder scheinen zu atmen.
„Durch eine feine Nabelschnur stiftet der Photograph Leben,“ schreibt Roland Barthes (Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie). „Wenn ihm dies nicht gelingt, bleibt das Subjekt für immer tot.“ Und Helga Paris gelingt es. Daß sie sich selbst gerne als Amateurin verstanden wissen will, wundert dann schon. Amateur, das ist laut Wörterbuch ein „Ungeübter“, einer der das, was er tut nicht zum Broterwerb macht. Er macht es aus Liebhaberei. „Amare“, „lieben“, steckt in dem Wort, und das ist vielleicht der Grund, warum diese Bilder eine solche Faszinationskraft entfalten. Denn Helga Paris fotografiert, was sie liebt. Nie geht es ihr um Sozialstudien oder Typologien, sie folgt keiner übergeordneten Fragestellung, keiner Intension. Sie folgt einzig einer Schule der Achtsamkeit. Und so werden Jugendliche, eigentlich harte Punks der Ost-Berliner Szene, unter ihrem Blick zu zarten, fast hilflos wirkenden Wesen. Einer von ihnen ist Sven Marquardt. Heute berühmt sowohl als Fotograf wie als Türsteher des Berghains. Doch nicht nur die sogenannten „kleinen Leute“ standen vor ihrer Kamera, sondern auch die Großen aus Literatur, Kunst und Theater. Ein veritables „Who`s who“ der ostdeutschen Kreativszene versammelt sich hier: Sarah Kirsch, Bettina Wegener, Adolf Endler, Christa und Gerhard Wolf, oder Sascha Anderson, um nur einige zu erwähnen. Letzterer sich seitlich abwendend in einer vieldeutigen Spiegelverdoppelung, Christa und Gerhard Wolf hingegen entspannt und gut gelaunt in geselliger Runde in ihrem Sommerhaus in Meteln. Eine Szene wie aus einem schwarz-weiß Film der 1950er oder 60er Jahre oder wie aus einem Film von Rudolf Thomé.
„Gesichter – Frauen in der DDR“ hieß der erste, 1986 veröffentlichte und leider längst vergriffene Katalog. Richtungsweisend ist dieser Titel, denn das weibliche „In-der-Welt-sein“ war für Helga Paris immer ein großes Thema. Ramona, das Mädchen mit Strickjacke und Karo-Rock, die VEB-Näherinnen in ihren Kittelschürzen, die ältere Dame mit ihrer rätselhafter Hutfeder, die lachenden Frauen aus der Serie „Berliner Kneipen“, oder all die Schönheiten aus der Serie „Georgien“ – nie scheinen all diese Frauen zu posieren oder irgendwelchen Vorgaben zu folgen. Nichts wirkt gemacht oder gestellt. Hier will niemand gefallen, verführen oder irritieren Und dies gilt für alle Portraits, auch für die 12-teilige Serie der Selbstportraits. Hier rückt sie, im Unterschied zu den anderen Portraits, die Kamera ganz nahe an ihr Gesicht. Müde, ernst und unbeweglich stellt Helga Paris sich selbst dar. Von einer schonungslosen Selbstbefragung, von einem heiligen Ernst könnte man sprechen. Vielleicht liegt genau in diesem Moment auch die emotionale Kraft der Ausstellung. Sie konfrontiert uns ganz direkt mit der Bilderflut in der wir heute leben, wo Menschen unentwegt „ posen“ und „smilen“ und nur noch auffällt, was schrill, schräg oder „schocking“ ist. „Authentisch zu sein, ist heute fast unmöglich geworden“, sagt Helga Paris und deutet damit vielleicht auch an, warum sie 2008 die Kamera aus der Hand gelegt hat.
„Diva in Grau“ so bezeichnete der Schriftsteller Detlef Opitz Halle, die Stadt an der Saale, der Helga Paris eine ihrer wohl bekanntesten Serien widmete. Von 1983 bis 1985 hielt sie den Verfall und die Tristesse dieser vom zweiten Weltkrieg weitgehend verschonten Stadt fest. Sie fotografierte die vom brutalen Abriss bedrohten mittelalterlichen Häuser und Straßenzüge, die unter all ihrem Schmutz und Staub Vergangenheit und Schönheit bezeugten. Doch diese Aufnahmen waren der parteipolitischen Führung zu provokant. Ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Störungen sollte hier die neue, sozialistische Modellstadt entstehen mit Wohnungen für den „neuen Mensch“. Die geplante Ausstellung wurde damals verboten. Erst im Winter 1989/1990 konnten die zensierten Fotografien in Halle besichtigt werden. Die Akademie der Künste zeigt eindrückliche Exemplare dieser Serie.
Unbedingt Zeit nehmen sollte man sich also für all diese eigensinnigen Bilder, darunter auch die erstmalig gezeigte Serie „Leipziger Hautbahnhof“. Aber auch für das Dokumentarfilm-Tryptychon, welches die Filmemacherin Helke Misselwitz für den Max Liebermann Saal entworfen hat. Wie sich Leben und Werk von Helga Paris verschränken wird hier erfahrbar. 1994 kehrte Helga Paris nochmal nach Zossen, an den Ort ihrer Kindheit zurück. Ruinen, ein tanzendes Paar, halbnackte und uniformierte Männer im Wald, ein Affe mit aufgerissen Augen, die Ausstellung entläßt uns mit rätselhaften Trauma- und Traumbildern.
Daniela Kloock
Foto ganz oben: Helga Paris | Ramona, 1982 |© Helga Paris. Quelle: ifa (Institut für Auslandsbeziehungen)
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Helga Paris, Fotografin
Laufzeit der Ausstellung: bis 12. Januar 2020
Tickets: Tel. 030 20057-1000, ticket@adk.de, www.adk.de
Akademie der Künste, Pariser Platz 4, 10117 Berlin
www.adk.de
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