Der Angstlust folgen …

Ameisen, Spinnen, Kröten oder Heuschrecken – Tiere, vor denen vor allem Frauen sich fürchten. Sie sind klein oder glipschig, zuweilen unangenehm oder sogar gefährlich. Sie stechen und kratzen, kriechen am Boden oder sitzen im Verborgenen. Germaine Richier, eine der bedeutendsten Bildhauerinnen des vergangenen Jahrhunderts, war von diesen Tieren fasziniert. Bereits als Kind sammelte sie Insekten. Legendär muss ihr Atelier gewesen sein. Eine überbordende Sammlung von Tierkadavern, Steinen, Ästen und Mineralien, Fundstücken aus der Natur. Derzeit wird die 1959 verstorbene Künstlerin wiederentdeckt. Das „Musee Picasso“ in Antibes ehrt die Französin mit einer sensationellen Ausstellung. Zu sehen sind nicht nur ihre weltweiten verstreuten großen und kleinen Skulpturen, die im „Chateau Grimaldi“ kongenial in Szene gesetzt werden, sondern auch ihr umfangreiches selten gezeigtes grafisches Werk, ihre Zeichnungen und Studien. 

Germaine Richier, die in einer Winzerfamilie in der Provence aufwuchs, kam 1926 nach Paris, um bei Émile-Antoine Bourdelle, einem Schüler Auguste Rodins, zu lernen. Dort traf sie auch auf Alberto Giacometti. Es entstehen realistische Portraits, Ganzfiguren und Torsi nach klassischen Vorbildern. Zehn Jahre später agiert sie bereits international erfolgreich. Sie erhält als erste Frau überhaupt 1936 einen Bildhauer Preis in New York, eine weitere Auszeichnung 1937 bei der Weltausstellung in Paris. Unter dem Einfluss der surrealistischen Bewegung erfolgt die Abwendung von der klassisch plastischen Formensprache. Eine Reise nach Pompeji wurde zum Schlüsselerlebnis. Die Beschäftigung mit den Abgüssen der in Lava erstarrten Menschen gab ihrem Schaffen eine neue, eigene Richtung. Keine schön geformten Köpfe, keine klassischen Büsten oder Figuren mehr, sondern Skulpturen voller Risse und Löcher, entgrenzt, deformiert, dem Verfall preisgegeben. Das Zeitalter monströser Formen, die „Krallenepoche“ (l` époque de griffes) begann mit der Emigration in die Schweiz und führte zum endgültigen Bruch mit bildhauerischen Traditionen bzw. deren Formensprache. Fortan wurde das, was man gemeinhin als „hässlich“, „bedrohlich“ oder „unheimlich“ bezeichnet, zum Thema. Während des zweiten Weltkriegs lebte Germaine Richier mit dem Schweizer Bildhauer Otto Charles Bändiger in Zürich, in engem Kontakt mit anderen ebenfalls in der Schweiz lebenden Bildhauerfreunden, darunter Marino Marini und Fritz Wotruba. Unter dem Eindruck der Kriegsereignisse entstanden dann DIE hybriden Wesen, die bis heute mit ihrem Namen verknüpft sind.

„Die Gottesanbeterin“ von 1946 ist eine der fünf großen Bronzearbeiten, welche in Antibes in der zentralen Halle aufgebaut sind. Halb Tier, halb Frau, hockt dieses „Viech“ auf dürren Beinen sprungbereit, genau wie „Die Heuschrecke“ (1955/56), inmitten eines dicht bestückten Bestariums. Wo Halloween schon lange kein Schaudern mehr erzeugt, hier ist es zu haben. Alle lebensgroßen Figuren sind gespenstische, groteske und absonderliche Wesen, erstarrte Ungeheuer. Franz Kafka hätte sicherlich seine Freude an ihnen gehabt. Ähnlich wie Gregor Samsa sind sie Zwitterwesen, halb Mensch, halb Tier. Diese Skulpturen wirken beängstigend – scheinen sich aber gleichzeitig auch vor den Betrachtenden zu fürchten. Wer holt hier erst zum Vernichtungsschlag aus? Wer wird überleben? Alles ist doppeldeutig. Unglaublich jedenfalls wieviel Energie nach wir vor in ihnen steckt, wie physisch lebendig sie immer noch zu sein scheinen, und wie konfrontativ sie wirken. Nicht ganz so heftige Reaktionen und Fragen evozieren die kleinen, kaum bleistiftgroßen Bronzen, die an den Rändern skelettartig ausfransen und aussehen als kämen sie direkt aus dem Totenreich. Sie könnten so, hinter dickem Glas geschützt, auch in einem ethnologischen oder archäologischen Museum ausgestellt sein. 

Und dann sind da noch die sogenannten „Fadenplastiken“ zu bewundern. Skulpturen, die einerseits, wiewohl fragil, Halt gebieten, andererseits räumliche Enge symbolisieren. Sind sie doch alle in ihrer Bewegung beschränkt. Diese Werkgruppe verdeutlicht noch einmal das zweite große Thema der Künstlerin. Ihre fortwährende Suche nach der paradoxalen Statik und nach der Bewegung in der Plastik. „Die Ameise“ von 1953 dürfte innerhalb dieser Werkphase eine der bekanntesten Skulpturen sein. In Antibes wird „La Fourmi“ ebenso wie „Le Griffu“ (1952) mit Hilfe von Beleuchtung so in Szene gesetzt, dass räumliche Doppelungen durch Schatten entstehen. „Das Krallenwesen“ sieht dann auf einmal eher aus wie ein abgemagertes Raubtier.

Germaine Richier, das macht die Ausstellung deutlich, war eine Ausnahmekünstlerin. Eine Frau, die nie müde wurde das Unbekannte zu suchen, die das Leben und alles Lebendige als Ereignis feierte, und sich immer wieder die Frage danach stellte: „was ist der  Mensch“? bzw. „was bleibt von ihm?“ 

Daniela Kloock

Bild ganz oben: La Fourmi, 1953 | Bronze | 99 × 85 × 64 cm | Bruxelles, Galerie de la Béraudière | © Galerie de la Béraudière

Germaine Richier, la Magicienne
noch bis 26 Januar 2020

Musée Picasso
Château Grimaldi
Place Mariejol
F-06600 Antibes

www.antibes-juanlespins.com

Germaine Richier, La Montagne, 1955–1956. Bronze, 125 cm. Paris, Centre Pompidou, Musée national d’art moderne © Adagp, Paris 2019