Thesen sind eben nur Thesen
In seinem neuen Buch fordert Wolfgang Ullrich eine neue Streitkultur
Wolfgang Ullrich liebt es, Tabus zu brechen, Tabus wissenschaftlichen Denkens wohlgemerkt. In seinem neuen Buch hat er eine zunächst etwas ungewöhnliche Textform gewählt, die der Poetik-Vorlesung. Schon das ist eine kleine Provokation, denn Poetik-Vorlesungen halten normalerweise Schriftsteller und Dichter, um Einblicke in die Werkstatt ihres Schreibens zu geben. Könnte das im Fall eines Geisteswissenschaftlers überhaupt von Interesse sein? – Allerdings! Der Autor führt vor, wie wissenschaftliche Texte entstehen, er analysiert seine eigene Haltung, aber auch die von Kollegen und liefert so überzeugend eine neue Form der Wissenschaftskritik.
Das Buch wirkt auf ersten Blick wie der Nachdruck einer fünfteiligen Vorlesung. Der Autor spricht den Leser direkt an und berichtet sogar in der Ich-Form mitunter von persönlichen Erlebnissen. Doch im Gegensatz zu echten Vorlesungen ist sein Buch kompakter Lesestoff und würde kaum als Manuskript für eine echte Vorlesungsreihe taugen. Ullrich wählte diese Darstellungsform, weil er beim Leser eine erhöhte Aufmerksamkeit erzeugen will – und vielleicht auch, um Widerspruch auszulösen.
Der Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe plädiert schon seit langem für flexibleres Denken. Er studierte Logik und Philosophie in München. Seine Magisterarbeit galt dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty, die Promotion Heideggers Spätwerk. Zur Kunst ist Ullrich durch seine langjährige Zeit als Assistent im Fachbereich Kunstwissenschaft an der Kunstakademie München gekommen. Das hat ihn geprägt.
Wir haben es also mit einem Theoretiker zu tun, der durchaus kunstaffin ist. Das ist wichtig zu wissen, denn manchmal entsteht der Eindruck, Ullrich habe zur Malerei oder Skulptur keinen rechten Bezug. So erzählt er in der ersten Vorlesung seines Buches von einem Vortrag, in dem er nachwies, dass Max Beckmann seine Bildwelt in einem Triptychon so sehr verrätselte, dass kein Kunstwissenschaftler es mehr entschlüsseln konnte. Warum sollte man sich also überhaupt mit dem Werk befassen? Nur, weil es von Beckmann ist? Warum das Rätselhafte zum Wert an sich erklären? Die Empörung bei den versammelten Kunsthistorikern war groß. Doch ging es ihm gar nicht darum, die Bedeutung der Malerei Beckmanns zu schmälern, sondern allein darum, seinen Kollegen zu demonstrieren, wie unkritisch sie an die Werke von anerkannten Künstlern der Moderne herangingen.
Die eigene Haltung müsse immer reflektiert werden, so Ullrich. Doch auch die Sprache sei voller Tücken – mitunter aber auch voller Möglichkeiten. Oftmals bezeichnet er sein unkonventionelles Vorgehen als „Lockerungsübungen“. Dazu gehört auch das „Umwenden“ von festen Begriffen. Ein Beispiel: die genaue Betrachtung des Umgangs mit dem in der Regel wenig geliebten Begriff des „Opportunisten“. Im Lateinischen bedeute „op(p)ortet“ nicht nur das, was sich zieme, sondern auch das, was eine Evidenz habe, was in einer Situation das Passende, das Richtige sei. Aus dieser Perspektive könne man Opportunisten auch positiv zu beschreiben, als jemanden, der in der Lage ist, eine Sensibilität zu entwickeln für verschiedene Momente, verschiedene Situationen.
Obwohl das Buch die Geisteswissenschaften allgemein betreffen soll, begegnen dem Leser naturgemäß fortwährend die Hauptthesen des Autors. Sein schon in früheren Publikationen dargestelltes Lieblingsthema ist seine Kritik an der weit verbreiteten „Kunstfrömmigkeit“ von Kunstexperten, wie auch des Publikums. Es gehört erklärtermaßen zu Ullrichs wissenschaftlichem Verfahren, bereits publizierte Gedanken in anderem Kontext wiederzuverwerten. Insofern sind es exemplarische Beobachtungen, die Ullrich anstellt. Und dennoch haben sie grundsätzlichen Charakter, weil er vor oftmals sprachliche oder gedankliche Strukturen offenlegt.
In der Tendenz klingt Ullrichs Plädoyer für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften durch mehr Reflexion des eigenen Schreibens also mehr als plausibel. Allzu häufig seien sie von ideologischen Scheuklappen geprägt. Mit „Theoriesoldaten“ und „Diskursnonnen“ kann er nichts anfangen. Oftmals seien verlören vielen dem Diskurs verpflichteten Wissenschaftlern den eigenen Blick auf die Dinge aus den Augen.
Ullrich setzt seine Auffassung wissenschaftlichen Arbeitens dagegen. Er analysiert sein eigenes Vorgehen, sein eigenes Erkenntnisinteresse, seinen „Drang nach Thesen“, nach „Relevanz“. Während der Romanautor eine Welt stifte, reduziere der Wissenschaftler die Welt auf Thesen. Aber Thesen seien eben nur Thesen. Der Professor fordert mehr Kontingenzbewusstsein, also mehr Einsicht in die Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnisse doch immer auch beliebig seien. Relevanz würde sich nur ergeben, wenn ein Theoretiker sich bewusst mit einer Hypothese und einem eigenen Interesse einem Phänomen nähere.
Ullrich ist ein brillanter Autor und Rhetoriker, was die Lektüre seiner Bücher zuweilen amüsant macht. Er jongliert mit Phänomenen der Hochkultur und der Konsumwelt, der Tradition und der Gegenwart, und er nutzt gerne außergewöhnliche „Settings“. Auch die gefakte Form der Poetik-Vorlesung ist so ein Setting. Doch tut er dies immer im Dienste seiner Thesen. Solche Tricks seien jedoch verführerisch, so Ullrich selbstkritisch in seiner zweiten Vorlesung, sie könnten missbraucht werden, manch einen von einer stringenten Argumentation ablenken. Er kritisiert übermäßige Zuspitzungen, mahnt bei den Kollegen mehr Bescheidenheit an.
Aber nicht nur einzelne Begriffe oder rhetorische Mittel beeinflussen das Schreiben, auch ganze Denkfiguren halten, so Ullrich, viele Autoren in einer selbst gewählten geistigen Quarantäne. Wer beispielsweise meint, früher sei alles besser gewesen, habe Schwierigkeiten sich aktuellen Phänomenen zu öffnen. Der weit verbreiteten kulturkritischen, meist kulturpessimistischen Haltung etwa des Bildungsbürgertums kann er nichts abgewinnen. Wer sich heute noch entfremdet fühle, mache sich selbst etwas vor oder könne die gebotenen Freiheiten nicht nutzen. Das mag mancher als Schlag in die Magengrube empfinden, dennoch hat Ullrich nicht ganz Unrecht. Das Leiden an der Welt ist nicht immer eine gute Voraussetzung für ein neugieriges Verhältnis zur Gegenwart. Und so gipfelt das Buch in einer Forderung nach mehr „Geistesgegenwart“, aber auch – ganz praktisch – nach einer Erneuerung der Geisteswissenschaften. Ullrich spricht die Bologna-Reform an, aber auch die Auswirkungen des boomenden Seniorenstudiums. Letzteres würde mitunter die Inhalte nivellieren und dazu führen, dass begabte Studierende in andere Bereiche abwanderten. Die Universitäten hätten versäumt, auf solche Entwicklungen zu reagieren. Was er aber vor allem anmahnt, ist eine neue Streitkultur.
Erfrischend anders, intelligent, spannend: Man wünscht sich das Buch in viele Hände. Wolfgang Ullrich zieht darin die Summe aus zwanzig Jahren theoretischer Aufräumarbeit und zeichnet zugleich exemplarisch ein Bild der aktuellen Situation der Geisteswissenschaften. Eine anspruchsvolle Lektüre, aber auch ein zuverlässiger Begleiter, um das eigenen Denken in Bewegung zu versetzen.
Carmela Thiele
Foto: Markus J. Feger
Wolfgang Ullrich: Des Geistes Gegenwart – Eine Wissenschaftspoetik
erschienen im Wagenbach Verlag
ein Paperback mit 144 Seiten
10,90 Euro
Als Radiobeitrag mit O-Tönen veröffentlicht am 5.10. 2014 auf SWR2
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