Theater mit Nachklang

Kann Theater über sich selbst hinaus wirken, hinein in die Gesellschaft? Das ist – wenn es um Schauspielkunst geht – eine der Fragen des Publikums als auch der Theaterleute. Das D’haus, das Düsseldorfer Schauspielhaus, jetzt in der dritten Spielzeit unter der glücklichen Intendanz von Wilfried Schulz, bejaht die Frage zum Ausklang des Jahres 2018 gleich mit zwei zeitgleich herausgekommenen bemerkenswerten Inszenierungen.

Bemerkenswert ist schon allein, dass hier zwei extrem unterschiedliche Spielarten aufeinandertreffen: Regisseur Alexander Eisenach setzt in seiner Adaption von Schillers „Don Karlos“ auf üppige Effekte. Sein Kollege Felix Krakau baut in Henrik Ibsens „Peer Gynt“, der neuen Offerte der Bürgerbühne am D’haus, auf das Einfache, das so schwer zu machen ist, auf die Wucht schlichter Gefühle und geradliniger Gedankenbahnen. Beides hat seine Berechtigung, beides sein Publikum.

Der alles andere als einfach zu realisierende „Don Karlos“ – eifrige Theaterfreunde begegnen dem Stück immer und immer wieder, allerdings nur sehr selten in mitreißenden Aufführungen – überrumpelt die Zuschauer in Düsseldorf mit irrwitziger Kraft. Da wird durchweg auf die Tube gedrückt, wird viel Theaterzauber aufgefahren, toben die Schauspielerinnen und Schauspieler geradezu unentwegt durch die ganz aufs Allgemeingültige zielende Szenerie. Das hat Wirkung. Allerdings braucht’s eine gehörige Lust der Zuschauer auf genaues Zuhören, auf das Erspüren von Zwischentönen. Bei vier Stunden Dampframmen-Wucht ist es so einfach nicht, noch die Zwischentöne wahrzunehmen. Wie so oft in Düsseldorf agiert ein exzellentes Ensemble, allen voran Lou Strenger als Eboli und Lea Ruckpaul im Part der Elisabeth. Den beiden gelingt es vorzüglich, hinter psychischer Pein das Politische zu erspüren, die fatalen Auswirkungen machtvergessener Politik auf das Leben der Individuen deutlich zu machen. Schillers zentrale Frage nach der Rolle und damit den Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen stellen sie so, dass man einigen Stoff zum Nachdenken über den Abend hinaus bekommt.

Henrik Ibsens „Peer Gynt“ in der Bürgerbühne kommt ebenfalls nicht gerade leise daher, bietet jedoch in gerade mal 75 Minuten einen größeren Variantenreichtum, was Tempo und Lautstärke angeht. Hier wird auch mal inne gehalten, Luft geholt, dem Nachsinnen Zeit geschenkt.

2009 hat Wilfried Schulz als Intendant in Dresden erstmals an einem deutschen Staatstheater eine Bürgerbühne etabliert. Das Modell – ein Traum von Theaterleuten seit der Zeit der Aufklärung – hat rasch Schule gemacht und viele Nachahmungen gefunden. Klar, dass Schulz bei seinem Antritt 2016 in Düsseldorf die Idee im Gepäck hatte. Die Umsetzung ist rundum gelungen: Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen, jedweder Herkunft und mit den verschiedensten sozialen Hintergründen verhandeln in professionellen Inszenierungen Probleme und Sachverhalte, die sie umtreiben. Das ist in der Regel höchst wirkungsvoll.

In „Peer Gynt“ geht es um die Kluft zwischen eigenen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und den (tatsächlichen und vermeintlichen) Erwartungen der Gesellschaft. Wie kann ich so sein, wie ich wirklich bin? Die Frage zieht weitere nach sich. Etwa diese: Wer bin ich überhaupt? Wie kriege ich raus, was mir gut tut und was nicht? Ist es möglich, ehrlich mit den eigenen Schwächen umzugehen? Die Agierenden auf der Bühne und die Zuschauer im Parkett finden über diese Problematik natürlich schnell zusammen. Was die jugendlichen Spieler sozusagen auf Wolken trägt. Selten wohl wird Schauspielerinnen und Schauspielern von vornherein derart viel Wohlwollen entgegen gebracht wie bei Bürgerbühnen-Aufführungen. Felix Krakau und sein Team haben sich aber davon nicht dazu verführen lassen, es den Akteuren leicht zu machen: Beständig müssen sie zwischen Selbstdarstellung und Interpretation der Figuren changieren, müssen Ibsens Vorlage nach dem Wert für sie selbst und damit für die Theaterbesucher „abklopfen“, müssen Leben hier und heute beleuchten. Das geschieht mit Charme, mit Verve, auch mit erfrischender Selbstironie. Das geschieht vor allem, in großer Nähe zum Publikum, ohne sich dem anzubiedern, ohne die Kunst des SCHAUspiels zu vernachlässigen.

Besonders beeindruckt jene Szene, die wohl die schwierigste des ganzen Stückes ist und an der sich schon manche Regie die Zähne ausgebissen hat. Die Szene um den Tod von Peer Gynts Mutter. Felix Krakau hat sie weitestgehend chorisch aufgelöst, alle zehn Akteure sind beteiligt, und doch erreicht er eine enorme Intimität. Denn es ist ihm hier gelungen, die Jugendlichen von allem falschen Pathos wegzuhalten und zugleich die emotionale Intensität des Moments aufleuchten zu lassen. Da sieht man – obwohl alle „nur“ auf einem schmucklosen Gerüst stehen, überwiegend fast reglos sprechen – die Phantasiewelt des Helden leuchten und blickt in die Abgründe des Menschlich-Allzumenschlichen. Ein Moment ganz großen Theaterzaubers von bezwingender Schönheit. Hier muss denn auch eine der Mitwirkenden genannt werden: Iman Abbasi. Die 24-Jährige, die derzeit in einem Kinder- und Jugendzentrum in Essen Bundesfreiwilligendienst leistet, schafft mit wunderbar kontrollierter Mimik, wenigen Gesten und feiner Sprachbehandlung Schönheit und Schrecken von Werden und Vergehen zu spiegeln. Da sitzt man als Zuschauer mit offenem Mund und bebendem Herzen im Theater.

Felix Krakau und Team verlassen sich nicht auf die Überrumplungskraft jugendlichen Überschwangs. Sie setzen auf ein beständiges sich infrage stellen. Und damit treffen sie wirkungsvoll auf ein Kernproblem unserer heutigen Gesellschaft, ein Problem, das offenbar schon zu Ibsens Zeiten, ja, wohl immer unter Menschen bestand: den Mangel an Empathie, man kann es auch Nächstenliebe nennen, Achtsamkeit gegenüber Anderen, ein Zuviel an Egoismus. Diese Aufführung verlassend, bohrt Selbstzweifel in einem: Erfüllt man selbst die eigenen Ansprüche? Trägt Theater Fragen wie diese ins Publikum, wirkt es erfrischend irritierend über sich hinaus und verirrt sich nicht in wirkungslosen Egotrips.

Bravo Bürgerbühne D’haus!

Peter Claus

Bild ganz oben: André Kaczmarczyk als Marquis de Posa und Jonas Friedrich Leonhard als Kronprinz Karlos | © Thomas Rabsch

Peer Gynt

Düsseldorfer Jugendliche stapeln hoch und setzen alles auf eine Karte

nach Henrik Ibsen

Regie: Felix Krakau

Don Karlos

von Friedrich Schiller

Regie: Alexander Eisenach

https://www.dhaus.de