Schuld und Sühne im Lande der Oghusen
In Berlin hatte Marc Sinans Fassung der “Heldensagen von Dede Korkut” Premiere.
Ist die Türkei ein verfluchtes Land? Auf diese Idee könnte kommen, wer dieser Tage sieht, wie das Land am Bosporus wieder einmal nicht zur Ruhe kommt. Für Fans nationaler Mythen konnte es nicht anders kommen. Denn Schuld und Sühne, Rache und Verfolgung, sind dem Volk in die Wiege gelegt. Jedenfalls, wenn man Dede Korkut folgt.
Die “Heldenerzählungen des Dede Korkut” sind eine Sammlung von zwölf Geschichten aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die in der Türkei einen Status haben wie hierzulande das Nibelungenlied. “Die Kunde von Tepegöz”, die achte Geschichte des singenden Schamenen, gab vergangenes Wochenende nun den Rahmen für ein ungewöhnliches Gastspiel im Maxim-Gorki-Theater ab.
Ein Hirte des alten Turkvolks der Oghusen vergewaltigt an einem heiligen Ort eine Nymphe. Die bringt daraufhin ein einäugiges Kind zur Welt und verflucht die Oghusen. Dieses Monster Tepegöz lässt sich nicht erziehen und wird schnell zur tödlichen Bedrohung für die Oghusen, die ihn aufgenommen haben. Erst jagen sie ihn in die Einsamkeit der Steppe. Am Ende wird der Ausgestoßene von seinem “Milchbruder” Bassat, dem leiblichen Sohn seines Stiefvaters, getötet.
„Dokufiktionales Musiktheater für Orchester, Stimme, Bewegung und Videoinstallation“ ist der angemessene Terminus für das Gesamtkunstwerk, das der türkisch-deutsche Komponist und Gitarrist Marc Sinan aus der unheilsschwangeren Geschichte gemacht hat. Zusammen mit Gorki-Dramaturg Holger Kuhlau hat er es ins Zeitgenössische überführt. Auf einer Leinwand inmitten der Bühne flimmern Bilder der asiatischen Steppe von heute: Schafe saufen an einem Wasserloch, durch das eine Pipeline führt. Oder es erscheinen Zitate aus den Mythos-Interpretationen türkischer Autoren.
Die großartige Inszenierung ist ein veritables Ost-West-Joint-Venture. Eines der zwei erhaltenen Korkut-Manuskripte liegt in der Sächsischen Landesbibliothek. Deshalb sind es die Dresdner Sinfoniker, die die großen Menschheitsthemen Schuld und Sühne, Ausgrenzung und Rache zusammen mit Musikern aus Kasachstan, Usbekistan und Aserbeidschan intonieren. Die einen treten in Jeans und Pullover, die anderen in farbenprächtigen Gewändern auf. Sinans Schau bewies aber auch, wie man uralte Traditionen performativ beleben kann.
Wenn die singende Erzählerin Jelena Kuljic, eine begnadete Schauspielerin und Jazzsängerin, die Schändung der Nymphe spielt, stopft sie sich die, von den Dresdner Sinfonikern abgespielten Notenblätter unter ihr weißes Kleid. Und bei Tepegöz’ Geburtsszene wälzt sich der Musiker Jun Kawasaki mit seinem Kontrabass in Zeitlupe auf dem Boden. Der türkischen Choreographin Aydın Teker ist die Meisterleistung einer minimalistisch- expressiven Choreographie geglückt. In der oghusische Erzähltradition und europäisches Tanztheater miteinander verschmelzen.
Dem sinfonisch-textuellen Patchwork gelang es aber auch, zeitkritische Funken aus dem alten Mythos zu schlagen. Denn als zum Schluß der Aufführung ein Zitat von Sema Kaygusuz über die Leinwand wanderte, verstand man plötzlich, warum der türkische und aserbeidschanische Botschafter ihre Teilnahme an der Premiere des interkulturell-übernationalen Projekts abgesagt hatten.
Die türkische Schriftstellerin hatte die Figur des Tepegöz als exemplarischen Fremden interpretiert, der ausgeschlossen wird, um die eigene Schuld vergessen zu machen. Und Parallelen von der mittelalterlichen Tragödie zu dem Genozid an den Armeniern und der Ermordung von Kurden gezogen. Vom Parkett aus Kaygusuz’ Wort “Massaker” angesichtig werden zu müssen, war den Eminenzen dann doch zuviel gewesen. So gesehen, wirkt der Nymphe Fluch noch immer.
Ingo Arend
Bild oben: (Thomas Auren)
vorn: Marc Sinan
hinten: v.l. Sasacha Friedl, Jun Kawasaki, Jelena Kuljić
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