Das Menetekel des Harlekin

Elend, länger als der Tod: Der Gauklerin wird 1760 ein christliches Begräbnis in Dresden verweigert, 1852 wird sie umgebettet im „Neuberin-Fest“, Eduard Devrient berichtet davon: „Seltsam war mir’s vor der wüsten Stätte an der niederen Mauer, wo die arme Frau verscharrt worden, schmählich verachtet und verstoßen.“

Was war es mit dieser ersten Leiterin eines deutschen Theaters, dass sie zu Lebzeiten nicht recht reüssieren und dann doch eine Rolle auf der Bühne der Historie erwerben durfte?

Der Schauspielerin Friederike Caroline Neuber, geboren am 9. März 1797, war wenig Fortune beschieden. Dem Vater entflohen, debütiert sie als Zwanzigjährige in einem durchaus nicht als honett geltenden Gewerbe. 1727 wird sie die Prinzipalin der Truppe und erhält das zehnjährige Privileg in Leipzig. Tingeln durch Deutschland, ein Gastspiel in Petersburg, ein Fiasko in Wien. Gewiss, sie hat einiges getan für die soziale Reputation der Schauspielerbanden – so war es den Mamsells ihres Ensembles untersagt, aushäusig zu nächtigen -, gewiss, sie war eine gute Schauspielerin – aber es gibt Berichte von überragenderen Talenten. Ihre bleibende Stunde kam in Leipzig, Oktober 1737. Da geschah, was Lessing im 18. Stück der „Hamburgischen Dramaturgie“ und im 17. der Literaturbriefe zur Unsterblichkeit nobiliert: „. . . ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, was selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden“.

Es war die Zeit, als das deutsche Theater daran ging, sich vom Ruch des fahrenden Volkes, vom derben Jahrmarktsvergnügen zu emanzipieren, um Kunst zu werden. Es gab kein Repertoire, es wurde geschmiert und extemporiert, dass niemand, auch die Beteiligten nicht, mit Sicherheit zu sagen wusste, wie das Stück enden würde. Und das unberechenbarste Element in dieser Tollerei war der Harlekin, das Symbol des ungebundenen Extemporierens. Und nun kommt Johann Christoph Gottsched (1700/1766) ins Spiel. Der bürgerliche Aufklärer wollte eine einheitliche Literatur schaffen, die überall in Deutschland zu wirken vermöchte. Zu diesem Zwecke verband er sich mit dem weithin wirkenden Theater. So geriet er an die Neuberin, der gutzuschreiben ist, diese Verbindung gewollt zu haben, denn die Vermählung von Theater und Literatur war eine Revolution. Gottsched übersetzte den französischen Klassizismus, Racine, Corneille, und konstituierte so „regelmäßige“, also literaisch fixierte Stücke auf dem deutschen Theater. Zwar begründete das den zeremoniellen „Tanzmeister-Stil“, zwar gab das noch keinen gesellschaftlichen Impuls, doch bildete Gottsched so das verbindende, notwendige Glied, das das Jahrmarktvergnügen zum deutschen Drama führte. Und Lessing, der dieses Drama durchsetzte, vermochte in seiner Zeitgenossenschaft nicht zu sehen, was er dem verspotteten Professor dankte. Dennoch, heitere Fußnote, wurde die Uraufführung seines ersten Werkes von der Neuberin besorgt.

Tatsächlich schufen die Neuberin und Gottsched mit der öffentlichen Verbrennung des plebejischen Harlekin in Leipzig so etwas wie das Menetekel, das Symbol des deutschen Theaters. Denn fortan galt der Spaß auf der deutschen Bühne als zweitklassig, hier nahm die fortwirkende Teilung in „U“ und „E“ ihren Anfang. Das Theater unterwarf sich fortan für lange der Literatur, und es dauerte lang, ehe sich die Bühne als eine Kunst aus eigenem Recht wiederum von der Literatur zu lösen vermochte. Dennoch kann kein Zweifel sein, dass die Tat der Neuberin und Gottscheds eine historisch notwendige war.

Friederike Caroline Neubert, eingescharrt hinterm Kirchhof, ist die Frau, die den Beginn der sozialen und künstlerischen Emanzipation des deutschen Theaters markiert, sie wollte die Menschen ehrbarer machen – und das Theater auch.

Schade, beinahe wäre sie an einem 8. März geboren. Es wäre zu schön gewesen.


Text: Henryk Goldberg