Himbeersaft statt Messwein:
Vierte Teil einer Pilgerreise in die wunderbare Welt des Würzburger Prälaten Berthold Lutz
Ein Priester muss erst recht ein ganzer Mann sein,
und wenn er auch nicht das natürliche Leben weitergeben darf,
das übernatürliche Leben weiterzugeben ist seine Aufgabe.
(Alfons Ruß: Die Steine der kommenden Zeit)
Was bisher geschah: Mit seinen Aufklärungs- und Anstandsbüchern erfreute er Mädchen wie Jungen: der Expilot und Jugendseelsorger Berthold Lutz. Als Dichter der Unschuld besang der heute 87jährige am liebsten zugeknöpfte Hosenställe, ließ aber auch oft die Triebwerke heulen.
„Die Stärke einer Burg erkennt man daran, daß ihre Tore verschlossen liegen.“ Dieses Diktum verdanken wir nicht Baron Bolligru, sondern Gertrud von le Fort, der Autorin des zweibändigen Bildungsromans Das Schweißtuch der Veronika (1928). In dieselbe Kerbe schlägt Margarete Seemann, die 1932 mit Hampelmann, führ uns an! in den österreichischen Kinderbuchhimmel auffuhr: „Vergiss nicht, Mädchen, wer Du bist, / und dass eine Krone Dein eigen ist“, reimt sie irgendwo – es mag in Blühender Dorn, in Benedeite Erde oder Gesegnete Brücken gewesen sein – und verneigt sich damit vor jener Hoheit, der auch Lutz die Honneurs macht.
„Vergiss nicht, dass Du ein heimliches Königreich besitzt, auch wenn keine Landkarte davon erzählt und kein wappengeschmückter Stein seine Grenzen bezeichnet“, instruiert der inzwischen Dreißigjährige seine weibliche Leserschaft, die er sich „wie scheues Edelwild“ denkt (mehrfach beschwört er das schöne Bild vom Rehrudel auf Futtersuche). „Und lass Dir da draußen von keinem die Krone wegreißen!“ Denn – und hier lässt ein fröhlicher Fanfarenstoß die Seiten erzittern: „Wer den Geschlechtstrieb beherrscht, ist König über alle Triebe.“
„Das Haupt, das heimliche Kronen trägt, das beugt sich dem Kusse so schwer“, sinniert der fromme Chevalier und gerät im 17. – „Feuer! Feuer!“ überschriebenen – Kapitel ins Verseschmieden: „Ungezählte Kostbarkeiten sind der Welt geblieben: / Blumen, Sterne, Nachtigallen… / Und aus allen Menschen jene, / die noch starke Reinheit lieben.“
Die fruchtbaren Jahre
„Klingt sehr lyrisch – aber ist was dran!“ möchte man mit Pater Leppich rufen. Hatte Die Leuchtende Straße noch einem Bienenkorb voller Anspielungen, Winke und Weisheiten geglichen, übt sich Das heimliche Königreich – halb Predigtreigen, halb Parabelkranz – „in Gemählden, die eine gewisse Zartheit des Pinsels erfordern“ (C. M. Wieland). Ein Unterfangen, das oft nur Anfängern und alten Meistern glückt. Und Lutz besteht. Sein „Buch für Mädchen vom Geheimnis des Lebens“ sei „mit feinem Verstehen geschrieben“, befindet der Niedersächsische Lehrerverband, und gestatte der Leserin, peu à peu „in alle Feinheiten ihrer jungen Regungen einzudringen“.
Das Büchlein wird, wie das Debüt, ein Bombenerfolg. Man ist in eine Marktlücke gestoßen, und schon bald wird „der neue Lutz“ – 1953/54 sind es drei Publikationen jährlich – von der Kritik stürmisch begrüßt. Vom „Jungscharführer“ bis zur „Wacht“, vom „Paulinus“ bis zur „Virgo Mater“, vom Berliner „Petrus“- bis zum Freiburger „Konradsblatt“. Selbst die „Katechetischen Blätter“ kriegen sich nicht mehr ein. Kein Wunder, dass die Auflage schnell die Millionengrenze überschreitet.
In die Jahre 1951 bis 1957 fallen neun Buben- und fünf Mädchenbücher, deren sechstes und letztes, Wirbelwind lernt Anstand, 1965 die Druckerei verlässt. Es sind sieben fruchtbare Jahre – Jahre, in denen sich die eingangs erwähnten „Eierstöcke im Hirn“ zu bewähren scheinen (obgleich, wie deren Entdecker, der Dichter Peter Hacks, vorsichtig relativiert, die Natur „im menschlichen Gehirn keinen Eisprung vorgesehen“ habe).
Bis in die sechziger Jahre hinein ist Lutz, der mit Frechdachs sorgt für Fröhlichkeit sogar eine veritable Witzesammlung vorlegt („Junge, mach keine guten Witze!“ blafft Feldmarschall Blücher in Die Liebe des Ulanen den Husaren Hugo von Königsau an: „Du weißt, die schlechten verzeihe ich, aber die guten bestrafe ich mit Lattenarrest!“), fleißig wie selten einer. Gut möglich, dass ihn der Neid auf Allrounder wie Willibrord Menke († 1954) beflügelt: Der westfälische Krankenhauspater wirkte in seiner Freizeit als Redakteur der Jugendzeitschrift „Manna“ und schuf nebenher zahlreiche Novellen, Märchen und Dramen, darunter Fesselndes wie Das Geheimnis um Illerburg (zwei Jungen kämpfen mit Menschenräubern, Todesstrahlen und Düsenjägern) und Erotisches (Gottesmägde in deutschen Landen).
Daneben fand Menke immer wieder Zeit, „Erlebtes und Erlauschtes“ aus der Beduinen-, Indianer- und Drachenkindermission (Li und ihre Freundinnen, Din, Lu und Feng, Ki und Fu usw.) zu Papier zu bringen. Das hat ihm zwar keinen Eintrag ins Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon beschert, aber dort ist ja auch, wie oft man zwischen Otto Ritter von Lutterotti († 1991) und Luxurius von Sardinien († 303) hin- und herblättert, Lutz nicht zu finden.
Multiple Priester
Die Trecker haben längst aufgehört zu tuckern. „Und in diese Stille fiel, unwiderstehlich wie der Abendwind, die Stimme des fremden Kaplans …“
Diesen Kaplan, ein erotisch aufgeladenes Spiegelbild des Verfassers, sollte man nicht allzu ernst nehmen. Lutz gebührt das Verdienst, den mehrfach gespaltenen Prediger – als multiplen Erzähler – in die konfessionelle Kinderliteratur eingeführt zu haben. Bereits in Die leuchtende Straße spricht er kunstvoll in Zungen, hält seine kuriosen Vorträge mal als Kaplan, dann wieder als „Onkel Felix“, schlüpft – via „Fliegertagebuch“ – in die Rolle eines Toten oder fährt in den Körper eines alten Mütterchens mit „schwarzgearbeiteten Händen“ und „hundert Runzeln“. Eine Maskerade, die besonders seinen Mädchenbüchern Pep und Farbe verleiht.
„Manchmal kommt es auch vor, dass das männliche Glied, das ebenfalls zu den Geschlechtsorganen gehört, besonders stark durchblutet wird. Das ist dann ein unangenehmes Gefühl“, klagt Onkel Felix, als er mit Norbert und Josef, den Protagonisten der Leuchtenden Straße, „einen kleinen Bummel am Flusskai“ unternimmt. Es sind Stellen wie diese, die Berthold Lutz als Kenner der Erektion und gleichzeitig als Frohnatur ausweisen, die der Schöpfung ihre Narreteien nicht krumm nimmt. „Nichts anderes geht hier vor, als was Ihr im Frühjahr im Garten beobachten könnt: Da steigt in den Bäumen der Saft – wenn Du einen Zweig abschneidest, siehst Du es ganz deutlich! – und lässt die Blätter- und Blütenknospen immer mehr schwellen, bis sie sich eines Tages öffnen in all ihrer Pracht.“
„Die Natur regelt sich hier schon selbst“, beruhigt der Onkel seine – wie kleine Flitzebögen – gespannten Zuhörer. „Im Übrigen kümmert man sich am besten weiter gar nicht darum.“ Der Meinung ist auch Klemens Tilmann, ein Trittbrettfahrer, der im Falle einer Versteifung zur Vollbremsung rät. „Hände weg! Das Wachstum der Natur darf man nicht stören!“ empfiehlt er in Weißt du schon…?, einer „Schrift von den Geheimnissen des Lebens“, die im Kielwasser der Leuchtenden Straße zahlreiche Auflagen erlebt.
Sexualhygienische Ansichten, wie sie in den Siebzigern seltener werden. Gegen Selbstbefriedigung spricht nun offiziell nichts mehr, außer, dass sie zum Egoismus erziehe. „Wer etwa zur Onanie auffordert, verstößt gegen ein Gesetz, das in den Menschen, als geselliges Wesen, eingepflanzt wurde“, mahnt der katholische Irrenarzt Dr. med. Hermann Dobbelstein in Porno und Hasch, einer trüb stimmenden Sammlung von Fallbeispielen, die die Herderbücherei 1971 als Paperback herausgibt und in der fingerdicke Hanfseile, Marzipanpüppchen in Körperhöhlen und spontane Hodenwanderungen vorkommen.
Heute verteilen katholische Randgruppen – Stichwort: Weltjugendtag – ungescheut Hilfsmittel, die zur Nächstenliebe aufstacheln. Auch wenn Geselligkeit großgeschrieben wird: Bevor die Zeit der FKK-Messen und Swinger-Gottesdienste anbricht, muss noch viel Meßwein die Prälatenkehlen hinabrollen – sofern der Petersdom nicht vorher „als Prunkbordell für schwule Saudis“ unter den Hammer kommt.
Oder die Reise in jene Richtung geht, die Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn – Erfinder der Parole „Right is Right and Left is Wrong“ – in Der gefallene Engel, dem dritten Teil seiner „Satanstrilogie“, in epischer Breite herbeischwadroniert. In seinem Roman aus den späten Dreißigern, zuletzt Anfang der Sechziger bei Herder neu aufgelegt, wagt die „einsame Stechpalme“, wie Ernst Jünger den polyglotten Ritter nannte, die Prognose, daß eines nicht fernen Tages „das Abendmahl statt mit Wein mit Himbeersaft“ gefeiert werde.
Daß Himbeersaft, in Mengen genossen, aphrodisierend wirkt, weiß jedes Kind. Falls Kuehnelt-Leddihn, der bei der großen Himbeersaftverschwörung Satan am Werke sieht, Recht behält, dürfen wir uns schon bald (seine Dystopie spielt 1997 ff.) auf klimatische Umbrüche freuen: Aus den Beichtstuhlfenstern hängen tropische Früchte, und statt der Tauf- und Weihwasserbecken erfrischen uns gewaltige Wasserfälle.
Doch nicht nur Kuehnelt-Leddihn, der 1933 mit Jesuiten, Spießer, Bolschewiken debütierte und sechzig Jahre später, auf der ersten „Sommeruniversität“ der „Jungen Freiheit“, letzte Erfolge feierte, zerbrach sich über die Kirche der Zukunft den Kopf.
Längst machen sich auch Fernsehlieblinge wie die Kastelruther Spatzen, die inzwischen ihren eigenen Käse („Kastelruther Spatzen Käse“) herstellen, für fickende Priester stark: „Wir sind alle zum Lieben geboren“, sang Norbert Rier, Kopf der „Dolomiten-Beatles“, schon 1996 im „Lied der Dornenvögel“, „und wer stärker ist als die Liebe, der werfe den ersten Stein“.
Ende gut, alles gut
Und Norbert? Die Ferienbekanntschaft des jungen Kaplans? Am Ende der heiteren Sommergeschichte – „der Schwarze“ ist mit seinen Buben in einer Staubwolke verschwunden – hat der Heiland im Herzen des Jungen Wohnung genommen, und im Oberstübchen kreisen froh die Gedanken. Wer weiß, vielleicht wird er in ein paar Jährchen selbst einmal Kappi sein, wie die alte, schöne Koseform für Kaplan lautet? Und während andere die Bretter zu ihren Hochzeitsbetten hobeln, in einer Wolke von Buben dahinschweben, einem großen Sommer entgegen …
„Wenn Gott ihn brauchen könnte, – er würde bereit sein …“ Ein zauberhafter Schlussakkord, dem – auf der letzten Seite – noch ein Paukenschlag folgt: „Der gleiche Verfasser, der dieses Buch für Dich geschrieben,schreibt auch für Dich eine Zeitschrift. ´Unser Guckloch´ heißt sie und Du siehst schon am Titel, dass sie lustig ist …“
Ich wurde vor Glück fast ohnmächtig. Berthold Lutz hatte eine Bubenzeitschrift geschrieben! Die mußte ich haben! Alle Hefte, und wenn es Zehntausende sein sollten. Doch die Suche führte zur sofortigen Ernüchterung. Niemand schien „Unser Guckloch“ zu kennen, und auch im Internet wurde ich in fünf Jahren nur einmal fündig. Dabei stand doch in der Leuchtenden Straße, zumindest in meiner Erstausgabe von 1950, dass „über 100.000 Buben“ die Zeitschrift „begeistert lesen“.
Autor: Wenzel Storch
Erschienen in „konkret“ 10/2010
Fortsetzung folgt:
Die Suche endet im Bamberger Priesterseminar: Alles über die Knabenzeitschrift „Unser Guckloch“
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