Es ist, was es ist
„Alles was ich tue, ist Brancusis Endlose Säule auf die Erde zu legen statt in den Himmel zu stellen.“ Was Carl Andre im Gespräch mit dem amerikanischen Kunstkritiker David Bourdon 1966 zur Kleinigkeit herunterspielt, war in Wirklichkeit eine kleine Kunstrevolution. Am 16. September 1935 in Quincy im US-Bundestaat Massachussetts geboren, gehörte der Künstler immer noch zu den bedeutendster Bildhauern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Als er im April 1966 137 industriell gefertigte gelblich-weiße Schamottziegelsteine hintereinander aufgereiht auf den Boden des Jewish Museum in New York legte, war der Umbruch des „rumänischen Genies“, wie er sein Vorbild Constantin Brancusi bewundernd nannte, vollendet.
Jahrelang hatte der künstlerische Autodidakt Andre noch Brancusis pyramidenförmiges Muster der zwei spitzwinklig aufeinander gestellten Dreiecke so in schlanke, rechteckige Holzsäulen gekerbt, dass sie wie dessen „Unendliche Säule“ aussah. Bis er vom geraden Weg der „Skulptur als Form“ abwich. „Den Rücken musst Du aber auch noch ausschnitzen, sonst ist es ja keine Skulptur“ hatte sein Mitbewohner in einem verlausten New Yorker Künstlerappartement, der später selbst zu Weltruhm aufgestiegene Künstler Frank Stella, über eine der Stelen gefrotzelt. Andre strich mit den Fingern über den rissigen Holzstamm und befand: „Wieso eigentlich? Der unbehauene Block ist die Skulptur.“ Er zerlegte die aufrechte Plastik zur „Skulptur als Struktur“, baute Brancusis Säule in konvexen Pyramiden aus übereinander geschichteten Holzquadern nach, bis er sie schließlich ganz umlegte.
Folgt man der Künstlerlegende, waren es die die langen, sich unendlich in den Horizont erstreckenden Schienenstränge der Eisenbahn von Pennsylvania, bei der der abgebrannte Andre 1960 bis 1964 als Bremser und Schaffner arbeiten musste, die ihn dazu animierten, von der Horizontale in die Vertikale zu wechseln. „Flach wie Wasser“ wünschte er sich die Skulptur nach einer Kanufahrt über die spiegelnden Flussoberflächen von New Hampshire. Jedenfalls war Andre mit seinem Sockelsturz der Kunstgeschichte, ohne es je zu wollen, bei dem angekommen, was der amerikanische Kunstkritiker Richard Wollheim in einem Aufsatz 1965 zur „Minimal Art“ erklärte und zu denen er Dan Flavin, Donald Judd, Sol LeWitt und Robert Morris zählte.
Die Inkunabel der Kunstgeschichte von 1966 namens „Lever“, die in der kanadischen Nationalgalerie in Ottawa liegt, auch an diese Revolution. „Primary Structures“- der Titel der Ausstellung junger amerikanischer und britischer Bildhauer wurde in den Sechzigern Programm. Ihre gemeinsamen Kennzeichen: industrielle, unbearbeitete Materialien, seriell angeordnete, elementare Formen, das Fehlen jeder Symbolik oder Metaphorik spiegelten sich am deutlichsten in den meist quadratischen Ensembles aus Stahl- oder Kupferplatten Andres, die inzwischen zum Standard der Museumsausrüstungen weltweit gehören.
Mit der in in ihre Einzelteile zerlegten Skulptur hatte Andre die Arbeit des Bildhauers völlig umgekehrt. Nicht mehr der Künstler schneidet ins Material. Sondern die scharf geschnittene Stahlplatte schneidet in den Raum. Die gleichmäßig, ohne Hierarchie angeordneten Platten, von denen keine die andere überragt, demonstrierten Egalität und Demokratisierung der Komposition. Sie lassen kein Platz für trügerische Repräsentationen oder Bildkonventionen. Was manchen als scheinbar hermetisch und geheimnisvoll verschlossene Bedeutungsträger irritierte, sollte aber nichts weiter signalisieren, als das, was es ist. Material. Metall. Spürbar. Sehbar.
Die aufwendige One-Man-Show, die die Kunstmuseen in Krefeld und Wolfsburg 1995 zu Andres 60. Geburtstag durchführten – die weltweit erste große Retrospektive zu seinem Werk – provozierte schon damals die Frage, was von Andre’s in den 60er Jahren entwickeltem und seitdem eigentlich nur variiertem Formenrepertoire bleibt. Der Bildhauer sieht sich selbst gerne in der Tradition eines Rodschenko oder Tatlin. Verglichen mit der seit ein paar Jahren ebenfalls kritischer Revue unterzogenen, himmelsstürmenden, revolutionären Avantgarde vom Beginn des Jahrhunderts, wirkt sein Werk wie eine ausnahmsweise geglückte Revolutionsgeschichte.
Wie die Konstruktivisten, die eine völlig neue Welt samt neuem Alltag aus geschichtslosem Boden stampfen, gar in die Luft hängen wollten, Anhänger der Elementarform, unterschied ihn von diesen immer Offenheit und die Abneigung gegen verpflichtende Festlegungen. Und bei Andre muss das Gleiche nicht gleich sein. Die 1995 in Krefeld nachgebaute Kalksandstein-Installation „Sand-Lime-Instar“ von 1966 macht mit 120 in Farbe und Gewicht identischen Einzelmodulen, den „Equivalents“, die später der amerikanische Kunstfotograf Alfred Stieglitz zum Vorbild seiner Aufnahmen abstrakter Wolkenformationen nahm, nicht nur den negativen Raum zwischen ihnen sichtbar, sondern formt acht völlig unterschiedlich proportionierte Gebilde.
Neun massive Würfel aus Blei und Stahl. Ein kleines Kraftfeld von gerade mal 30 Zentimetern Höhe. Puristisch, trutzig steht Andres neueste Arbeit „2Cu7PB None“ mit der chemische Elementen-Bezeichnung meist auf den Museumsböden dieser Welt. Minimal als Bollwerk gegen die flatterige Postmoderne? Zumindest Andre’s Werk beweist, dass Konzentration, Reduktion und Kontemplation keine Flucht vor unentrinnbarer Vielfalt und Komplexität bedeuten müssen, sondern Felder authentischer Möglichkeiten eröffnen. Wer auf seine Metallskulpturen tritt, den Blick über den offenen Raum schweifen lässt, seine Entfernung zur Wand schätzt, merkt: Bedeutung stellt sich erst ein, wenn man selbst hinzutritt.
Aluminium klingt leichter als Zink, Zink tritt sich weicher als Stahl, Stahl härter als Kupfer. Ort entsteht durch Klang. Das Kunstwerk ist erst vollendet, wenn der Betrachter es begeht, in den Blick nimmt. Die Kunsthistorikerin Doris von Drathen hat Andre’s Selbsteinschätzung seiner Arbeit als „Herstellen von Orten“ mit einer problematischen Anleihe mit Heidegger’s „Stiften von Orten“ verglichen. Doch es geht nicht um mythische Setzungen, sondern darum, ihn zu bestimmen, indem man Relationen setzt. Ästhetische Ortsbestimmung ist der erste Schritt zur Selbst-Bestimmung.
Für die focht Carl Andre nicht nur künstlerisch. Mit dem häufig benutzten Titel „Vater des Minimalismus“ ist Andre nur unzureichend, weil formalistisch beschrieben. Politik, Kunst und Leben bildeten bei ihm eine untrennbare Einheit. 1969 gehörte er zu den Mitbegründern der amerikanischen „Art Workers Coalition“. Diese kapitalismuskritische, gewerkschaftlich orientierte Künstlerbewegung focht mit lautstarkem Aktionismus gegen den Vietnam-Krieg, Rassismus und Sexismus. Im April 1969 verkündete er in einem Manifest, das „Gift des Kunstbetriebes“, „ausdrücken“ zu wollen „wie eine Zigarette“.
Ironie und Tragik der Geschichte ist, dass die Retrospektiven des amerikanischen Künstlers heute zumeist in den erlesensten Tempeln der Kunst in Westeuropa stattfinden. 1967 stellte der Düsseldorfer Galerist Konrad Fischer Andre als erster in Deutschland aus und brachte damit die amerikanische Minimal Art über den Atlantik. In seiner Heimat findet er für sein sperriges und wenig spektakuläres Werk bis heute selten so viel Aufmerksamkeit wie hierzulande. Man könnte sich fragen, was Sponsoren von ihm zu fürchten haben. Ob die Minimal Art wirklich eine fortschrittliche Revolte war, wurde nämlich früh bezweifelt.
Schon 1972 sah die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held in der Minimal Art vor allem Robert Morris’ und Donald Judd’s eine „amerikanische Ideologie“. Ohne eigenständigen künstlerischen Gestaltungsanspruch bilde sie unhinterfragt die Mechanismen und Bedingungen der industriellen Produktion ab, mit denen sich Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht hocharbeitete. Auch bei Andre lassen sich solche Spurenelemente finden. Mit seinen Stahlplatten, die im Freien oxydieren und Spuren der Verwitterung zeigen sollen, will er sich „den Bedingungen der Welt unterwerfen“. Andre wehrt sich bis heute gegen die Einordnung in die Riege der Konzeptkünstler, sprach von „Kunst als gestilltem Verlangen“, von „Kunst-Wünschen“ statt von „Kunst-Ideen“.
Auch diese Selbsteinschätzung kann man bezweifeln, wenn man an die drei Tonnen schwere Skulptur aus 1296 Metallplatten denkt, die er vor 20 Jahren in Wolfsburg ausbreitete. Aus 99 Prozent reinem Zink, Zinn, Blei, Aluminium und Stahl sind sie in einer komplizierten Reihenfolge so angeordnet, dass sie die Wertigkeit dieser Elemente im Periodensystem abbilden und wie eine Bach’sche Fuge mögliche Verbindungen zwischen ihnen bildlich variieren. Andre‘s Hommage an den russischen Naturwissenschaftler Mendeleev.
Trotz solcher Widersprüche überlebt Carl Andre‘s Kunst als Ökologie der und Autonomie von Wahrnehmung. Der Mann, der eine konventionenbrechende Kunst „ohne jegliche menschliche Assoziationen“ schaffen wollte, meinte in Krefeld: „Die Menschen müssen in Berührung bleiben, sich verlieben, einander in die Augen schauen“. Es ist die Primär- und Elementarerfahrung von Andre’s Kunst, die heute schockierend aktuell anmutet: die von Masse und Materialität im optischen Zeitalter mit seiner Omnipräsenz täuschender und gestellter Bilder, die von Ortsbestimmung in ortsloser Welt, die der gestürzten und zur Linie gestreckte Skulptur als Initiator für einen beweglichen, nicht festlegbaren Blickpunkt in wieder festlegungssüchtigen Umbruchzeiten.
Was als Gegenbewegung zu dem leergelaufenen, egozentrischen Lyrismus der abstrakten Expressionisten wie Jackson Pollock entstand, entfaltet heute neue Kraft im Umfeld multimedialer Reizüberflutung und übermütiger Neo-Neofiguration. So lässt man sich Materialismus gefallen. „Meine Kunst“, sagte Carl Andre 1970 im Gespräch mit der amerikanischen Kunstkritikerin Phyllis Tuchman, „entsteht aus dem Begehren, Dinge in der Welt zu haben, die bestätigen, dass man auf der Welt ist.“
Ingo Arend
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