In einer Gruppenausstellung der Kommunalen Galerie Weißer Elefant demonstriert ein Klassiker der Kunstgeschichte seine ungebrochene Anziehungskraft.
„Höhere Wesen befahlen: „Rechte obere Ecke schwarz malen!“ Fast könnte man meinen, Sigmar Polke hätte Tim Trantenroth die Idee eingegeben: Aber statt des Dreiecks, wie bei dem Kölner Genieverächter, der sich gern über große Meister lustig machte, ist es eben doch ein 40 mal 40 Zentimeter großes, schwarzes „Raumquadrat“, das schräg zur Decke des Ausstellungsraums in dem roten Backsteinbau in der Auguststraße prangt.
Fast genauso sah es aus, als im Dezember 1915 in der Galerie Dobytschina in Petrograd (St. Petersburg) die Ausstellung „0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ eröffnete. Kasimir Malewitsch präsentierte auf dieser Schau sein berühmtes „Quadrat auf schwarzem Grund“ in dem, traditionell der russischen Ikone vorbehaltenen „Herrgottswinkel“. Trantenroth will schon an einen der wichtigsten Momente der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts erinnern. Und wohin passte diese Idee besser als in eine Galerie, die „Weißer Elefant“ heißt?
Eine überschäumende Hommage an den Mythos Malewitsch ist die Schau in einer von drei Kommunalen Galerien des Großbezirks Mitte nicht geworden. Was angesichts des 100. Jubiläums dieser „nackten Ikone“ (Malewitsch) nahe gelegen hätte. Die Ideen von einem „Nullpunkt der Malerei“ und vom Künstler als „Vorurteil der Vergangenheit“, die der Suprematist damals deklarierte, würden die 12 Künstlerinnen, die Kurator Ralf Bartholomäus hier versammelt hat, vermutlich nicht mehr unterschreiben. Auch wenn sie alle so abstrakt und ungegenständlich arbeiten wie er.
Elisabeth Sonneck beispielsweise hat ein Quadrat als seitlich eingerolltes Blatt auf die grundierte Ausstellungswand gehängt, das gar nicht schwarz ist, sondern nur so wirkt, weil die mehrfach aufgetragenen Blautöne es wie schwarz erscheinen lassen. Je näher man „Чëpный бeз чëpнoгo / Schwarz ohne Schwarz“ kommt, desto stärker löst sich dessen scheinbare Monochromie aber in unendlich viele Nuancen auf. Das Ende der Malerei, dargestellt mit den Mitteln der Malerei – ein sanfter Protest gegen Malewitsch.
Die kluge, konzentrierte Ausstellung belegt, wie diese Ikone der Moderne die zeitgenössische Kunst immer noch inspiriert. Die Emphase, mit der der Künstler vor hundert Jahren rief: „Fliegerkameraden, folgt mir, fliegt! Vor uns erstreckt sich die Unendlichkeit“, ist seinen Kollegen von heute zwar fremd. Die Abstraktion ist heute durchgesetzt. Aber in fast allen Arbeiten der Schau taucht das Quadrat auf. Freilich setzen diese Künstler Malewitschs Symbol nicht apodiktisch, sondern gehen spielerisch damit um.
In seinen „Quadraten im Aufbruch“ öffnet Andreas Schmidt Malewitschs Symbol zu zwei, auf die Wand gesetzten schwarzen Linien und zwei weißen Leuchtröhren – eine Erinnerung an das Dynamisierungsgebot der Avantgarde. Matthias Stuchtey hat das Schwarze Quadrat als Relief aus einem zersägten IKEA-Regal in ein Relief transformiert. Und Anja Gerecke hat es als „Plateau“ aus MDF-Holzplatte auf den Boden gelegt und mit Gummi überzogen, damit man es betreten, also benutzen kann.
„Aphele Panta / Tu alles weg“ – das Zitat des griechischen Neuplatonikers Plotin, mit dem Bartholomäus die Schau betitelt, trifft nicht nur Malewitschs Forderung, die Kunst von jedem Gegenstandsbezug zu befreien, sie auf die geometrischen Grundformen zu reduzieren. Sie passt auch gut zu dem nüchternen, minimalistischen Grundton der Schau.
Wenn die Künstlerinnen etwas zu begeistern scheint, dann Malewitschs Idee des Immateriellen. Ob man nun Anne Gathmanns Rauminstallation „1/0“ nimmt, in der zwei große, von der Decke bis zum Boden reichende Glasscheiben die Dialektik von Präsenz und Nichtpräsenz und ein Gefühl für Gegenstandslosigkeit aufrufen.
Ob man den weiß gestrichenen Quader „Nichts von allem“ des Installations-Künstler Tilman Wendland nimmt, der an Malewitschs Architekturmodelle erinnert. Und „16. September bis 2. Oktober 2015“, das filmische Protokoll des Lichteinfalls in einem Zimmer der Galerie von Veronika Hingsberg erinnert an Malewitschs „Suprematie der reinen Empfindung“.
„Ich habe mich in den Nullpunkt der Formen verwandelt und bin über Null hinausgegangen“ schrieb Malewitsch 1915. Dass dieser Vorstoß in die vierte Dimension nicht nur ästhetisch, sondern moralisch verstanden werden kann, zeigt das Malewitsch-Zitat, das Andreas Schmidt neben seine Installation gehängt hat. „Der Mensch muss dazu kommen, sein ‚Ich‘ in allen Völkern und Nationen zu sehen, damit das furchtbarste aller Übel, die nationalen und rassischen Unterscheidungen, beseitigt werden“ schrieb der große Russe in seiner Schrift „Suprematismus I“ 1922. Diese „Transformation“ ist aktueller denn je.
Ingo Arend
zuerst erschienen in taz vom 13.10.2015
AUSSTELLUNG
Tu alles weg. 100 Jahre Schwarzes Quadrat
Berlin
Auguststraße 21
Di – Sa 13 – 19 Uhr
Ein Katalog erscheint zur Finissage.
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