Martin Honert legt in seiner Ausstellung „Kinderkreuzzug“ im Hamburger Bahnhof die Kraftquellen und Muster der kindlichen Einbildungskraft frei. Er zeigt uns die wahren Kreuzritter, freilich die der Fantasie
Kinderkreuzzug. Ein scheußliches Wort. Sofort öffnet sich ein Raum zwiespältiger Assoziationen. Ob man nun an die Fabel von den Tausenden Kindern denkt, die sich um das Jahr 1212 zu einem Kreuzzug ins Heilige Land aufgemacht haben sollen. Oder an die Kinderschar, die in Bert Brechts gleichnamigem Gedicht durch das kriegsverheerte Polen irrt, „suchend nach einem Land mit Frieden, ohne Donner, ohne Feuer“.
Auf jeden Fall aber betritt man das Gelände der Fantasie. Jedenfalls erging es Martin Honert so. Der 1953 in Bottrop geborene Künstler hörte im Geschichtsunterricht der sechziger Jahre zum ersten Mal von dieser Legende. Und hatte sofort das Gefühl, dass die Wandtafel in der Schule ein offenes Fenster mit Blick auf eine Hügellandschaft ist, aus dem die Kinderritter in den Klassenraum treten. 25 Jahre später hat er dieses Bild in Szene gesetzt.
„Kinderkreuzzug“, die Arbeit aus den Jahren 1985/87, ist ein Schlüsselwerk der von Udo Kittelmann und Beate Knapstein kuratierten Ausstellung. Denn es erhellt die Arbeitsweise Honerts, der heute an der Dresdner Kunstakademie Plastisches Gestalten lehrt, auf Anhieb: das Flüchtige der Erinnerung dadurch zu bannen, dass man es in eine feste Gestalt überführt. In der Lichthalle von Berlins Hamburger Bahnhof streben Kinderfiguren aus Plastik in Knappenkostümen aus einem Bergrelief ins Museum.
Immer sind es Momente der eigenen Biografie, die Honert als Ausgangspunkt für dieses kleine Wunder der Gestaltwerdung dienen. Ob es das Internat in Ostwestfalen war, das er mit einem Resopaltisch und einem roten Polsterstuhl in Nierenform heraufbeschwört. Ob es die tägliche Fahrt zwischen Bottrop und Essen war, die er mit dem Nachbau des schmucklosen, dunkelgrauen Hauses festhält, das an den Gleisen stand. Oder ob es der dickliche kleine Englischlehrer in der Schule war, den er als Skulptur aus Polyurethan in die Realität zurückgerufen hat – das Klassenheft unter dem Arm.
So wie diese Arbeiten im Museum nun alle nebeneinanderstehen, eröffnen sie aber auch ein imaginäres Panorama. Sie rufen die kollektive Erinnerung an die beschauliche, biedere Westrepublik auf, die es längst nicht mehr gibt.
Seit dreißig Jahren verfolgt Honert beharrlich sein Mantra. Vielleicht zählt er deswegen nicht zu den Glamour-Stars der deutschen Kunst. Dabei haben es seine Objekte in sich. Sie wirken wie eine Kreuzung aus zu groß geratenem Spielzeug und Fetischen des Alltags. So präzise und aufwändig gebaut, haben sie dennoch Pop-Appeal.
Sie sind aber auch Metaphern für die künstlerische Arbeit schlechthin: ein Bild zu konstruieren, das niemals dasselbe wie das Dargestellte, Erinnerte, Imaginierte ist. Auch wenn das Kind mit dem Kopf auf der Wachstuchdecke eines Küchentischs dem auf dem Familienfoto aus den 60er Jahren täuschend ähnlich sieht, das den kleinen Martin zeigt.
Stumm, lapidar und isoliert von ihrem ursprünglichen Kontext, transportieren Honerts Arbeiten auch die Melancholie und das Trauma der Erinnerung. Es ist wie bei Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ oder Martin Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“: Immer entzündet sie sich an den scheinbar nebensächlichen Gegenständen und Momenten.
Heutzutage wird gern die Wissensgesellschaft beschworen, in der geistige Fähigkeiten der Schlüssel zum Erfolg sind. Bei den Qualifizierungsoffensiven, mit der sie befördert werden soll, bleiben die elementaren Produktivkräfte jedoch oft auf der Strecke. Wann hört man schon Bildungspolitiker je die Fantasie preisen, noch dazu die kindliche?
„Die Erwachsenen begehen eine barbarische Sünde, indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten“, schrieb Robert Musil in „Der Mann ohne Eigenschaften“. Martin Honert ruft diesen vernachlässigten Rohstoff noch einmal nachhaltig in Erinnerung.
Paradigmatisch dafür steht die grüne Gallertmasse, die er auf einen Teller auf dem Resopaltisch gestürzt hat. Der Wackelpudding ist der Kindheitsfetisch schlechthin. Welcher Eindruck kann es schon mit dem aufnehmen, den dieser unfassbare Glibberstoff bei Halbwüchsigen auslöst? So wie Honert die Kraftquellen und die Muster der kindlichen Einbildungskraft freilegt, müsste man Joseph Beuys‘ Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ glatt zu „Jedes Kind ist ein Künstler“ umwandeln. Oder vielleicht: Kreuzritter der Fantasie.
Ingo Arend (taz 22.11.2012)
Honert: Kinderkreuzzug
Ausstellung bis 7. April, Hamburger Bahnhof, Berlin
Katalog (Verlag der Kunstbuchhandlung Walther König), 34 Euro
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