Bankrotterklärung
Auf der 7. Berlin-Biennale streckt die Kunst die Waffen vor der Politik
„Zeit für Taten“. Wer ein paar Tage vor Eröffnung der Berlin-Biennale die Auguststraße entlangging, stutzte. Was hatte der mit weißer Farbe auf ein paar Schaufenster gepinselte Slogan zu bedeuten? War das jetzt die Kunst, die „raffiniert und kreativ genug ist, sich in gesellschaftliche Transformationsprozesse einzubringen“? Dieses Motto hatte Kurator Artur Zmijewski der von ihm verantworteten siebten Ausgabe der Schau verschrieben. Oder hatte Mario Lombardo einfach kein Gespür für den Kontext?
Wer in dem ehemaligen jüdischen Scheunenviertel stand, den überkam nämlich statt des produktiven Nachdenkens darüber, was passiert, wenn man ein politisches Motto in einen anderen Kontext verschiebt, automatisch ein ganz anderes Erinnerungsbild: das der Aktionen gegen jüdische Geschäfte in der „Reichskristallnacht“.
Diese schillernde Mischung aus kalkulierter Doppelbödigkeit und unverhohlenem Agitprop kennzeichnet viele Arbeiten der gestern eröffneten siebten Berlin-Biennale.
So ist es bei dem an Runen gemahnenden Biennale-Logo, das ebenfalls das Design-Büro Lombardo entwarf. So ist es auch bei den Aktivisten der europäischen Occupy-Bewegungen, die im Hauptsaal der Kunst-Werke ein Polit-Camp samt Schulungsraum und Schlafecke aufgebaut haben. Mit dem an die Wand gepinselten Motto „Das Schweigen wird überbewertet“ wollen sie zeigen, dass sie das auf Duchamp gemünzte Zitat von Joseph Beuys schon kennen. Sie drehen aber auch der Kunstwelt eine Nase: Ihr glotzt, wir handeln!
Die Berlin-Biennale entstand 1998 aus dem Bedürfnis, das ästhetische Potenzial zu zeigen, das sich nach dem Mauerfall in der Stadt gesammelt hatte. Zmijewski hat diese Bauchnabelperspektive aufgebrochen. Ihre Antriebsenergie bezieht sie in diesem Jahr aus den politischen Konflikten in Polen oder Weißrussland. Dass deren Brisanz erzwänge, Kunst durch Politik zu ersetzen, hat der umstrittene Künstlerkurator freilich nicht belegen können.
Welche ästhetischen Spin-offs eine Kunst zeitigt, die daraus auf ist, „wirksam Realität zu verändern“, lässt sich an den Zeichnungen der weißrussischen Künstlerin Marina Naprushkina demonstrieren. Ob sich die lupenreine Diktatur in ihrer Heimat mit dem Leitfaden für das Genossenschaftswesen, den sie ins KW-Treppenhaus gehängt hat, überwinden lässt? Zu neuen Höhen der alten Kunst des Agitprop schwingen sich die Comics jedenfalls nicht auf.
Genauso wenig wie der riesige Schlüssel aus Stahl, in den Bewohner des palästinensischen Aida-Flüchtlingslagers nahe Bethlehem ihr „Recht auf Rückkehr“ gossen, die Skulptur neu definiert, geschweige denn ihnen ihre Heimat aufschließen wird. Auch die „Breaking News“ genannten Videos von Künstler-Journalisten, die die Aufstände von Athen bis Kairo begleiteten, kommen über die sattsam bekannten Biennale-Dokumentarismen nicht hinaus.
Dazu kommt der unvermeidliche Goodwill-Kitsch. Die 321 Birken aus Auschwitz-Birkenau, die Lukasz Surowiecz von dem Areal der Massengräber nach Berlin verpflanzt hat, bringen plötzlich etwas von der emotionalen Wucht der unmittelbaren Zeugenschaft zurück. Surowiecz‘ Aktion naturalisiert aber auch die Erinnerung.
Natürlich hat Zmijewski Recht, wenn er beklagt, dass sich der Kunstbetrieb zu einer mächtigen globalen Art-Industry entwickelt hat, in der Shareholder-Values und Preis-Rankings vor ästhetischen Werten rangieren. Die Grenzen dieses Systems wenigstens einmal bis zum Anschlag auszutesten, mag also reizvoll sein. Doch wenn die Kuratoren in den Biennale-Eingang Stephane Hessels Pamphlet „Empört Euch!“ hängen und die Haupthalle Aktivisten überlassen, die nicht die Kunst, sondern „die Bewegung voranbringen“ wollen, ist das in seiner dürftigen Performativität mehr als eine Bankrotterklärung der politischen Kunst, es ist die Abdankung der Kunst an sich.
Die siebte Berlin-Biennale ist auf einem ähnlichen Nullpunkt angekommen wie 1968. Im legendären europäischen Protestjahr war die Biennale von Venedig zu einer Plattform des Protests umfunktioniert worden. So wie sich die Kunst 40 Jahre später in Berlin präsentiert, gleicht sie einer jungen Nachwuchssängerin, die aus Angst vor dem ersten Plattenvertrag mit einem Musikmulti ihre Stimmbänder verstümmelt und stattdessen zum Plakat greift. Und sie besetzt ausgerechnet die armen Kunst-Werke, statt „Occupy Gallery Weekend!“ zu skandieren.
Aber wie man die kunstsinnige Bourgeoisie kennt, die Berlin in diesen Tagen auf der Suche nach dem ästhetischen Dernier Cri durchstreift, wird sie von der Non-Art der widerborstigen Aktivisten entzückt sein und ihnen noch den letzten verschmierten Schlafsack abkaufen.
Ingo Arend (taz 28.04.2012)
Bilder: www.berlinbiennale.de
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