Bei der 12. Istanbul-Biennale scheren Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann die Gegenwartskunst über den Gonzales-Torres-Leisten
„Untitled – Ohne Titel“ So kann man vielleicht ein Bild nennen. Aber eine Biennale? Wer im Vorfeld der 12. Istanbul-Biennale nach Informationen stocherte, stieß immer nur auf genau diesen geheimnisvollen Titel. Sehr viel mehr gab die Biennale-Website des Unternehmens nicht her. Philosophische Exkurse, die den Titel hätten erhellen können, suchte man vergebens. Nachfragen nach Künstlerlisten wurden abschlägig beschieden. Und genau in dieser Verweigerung dürfte schon ein Erfolg von Adriano Pedrosa und Jens Hoffmann gelegen haben, dem Kuratoren-Team aus Lateinamerika, das diesmal die Geschicke der einzigen türkischen Biennale leiten durfte.
Die Kritik des ausufernden Biennalen-Unwesens, dem Stadtmarketing mit ästhetischen Mitteln, gehört quasi zum Programm der beiden Ausstellungsmacher. Zusammen mit dem italienischen Künstler Maurizio Cattelan lockte Hoffmann mit den üblichen Reklamesprüchen und Werbung auf allen Kanälen 1999 Scharen von Biennalen-Fans auf die Karibikinsel St. Kitts, bei der die Besucher erst merkten, dass es gar keine Biennale war, als sie mit den Füßen im Sand steckten: Institutionenkritik mit den Mitteln der Biennale, sozusagen.
Ganz so weit mit der Kritik des Betriebssystems Kunst ging es in Istanbul diesmal nicht. Denn im Istanbuler Hafen gibt es durchaus jede Menge Kunst zu sehen. Nur auf ein schmissiges Thema oder eine spektakuläre Inszenierung mussten die Besucher verzichten, die zur Eröffnung in das Antrepo gekommen waren. Dafür erwartete sie eine Schau, die so mustergültig kuratiert wie eine Museumsschau war und so penibel gehängt wie eine Schmetterlingssammlung. Shop-in-shop könnte man die Hütten aus glänzendem Aluminiumwellblech nennen, die der japanische Architekt Ryue Nishizawa in die zwei Lagerschuppen hinein gebaut hatte. Und einen Reim auf das Gesehene, sollten sie sich, so die unausgesprochene aber offenkundige Idee der Kuratoren, schon selbst machen.
„Untitled“ – der Titel der Schau in diesem Jahr geht zurück auf den kubanisch-amerikanischen Künstler Felix Gonzales Torres, der die meisten seiner Werke so genannt hatte. Mit thematischer Unverbindlichkeit sollte man das nicht verwechseln. Denn der 1996 verstorbene Artist war für seine ausgesprochen politische Kunst bekannt: Ob es um den US-Imperialismus oder den Kampf gegen die Immunschwächekrankheit AIDS ging. Die exakt ausgerichteten Papierstapel, die er in den Museen auslegte oder die viereckigen Felder aus in glitzerndes Cellophan gehüllten Bonbons signalisierten aber immer, dass hier ein absoluter Formfetischist am Werk war.
Dass das Ästhetische und das Politische kein Gegensatz sein müssen, dass es eine politische Kunst jenseits von Sozialrealismus und Agitprop gibt, dass man erhellende Ausstellungen machen kann ohne gleich das ganz große Feuerwerk der Sensationen abzubrennen – dieses Credo zieht sich auch wie ein roter Faden durch die gesamte Biennale der selbsternannten Gonzales-Torres-Schüler.
Ob man die 12.235 Zinnsoldaten nimmt, die der kuwaitische Künstler Ala Younis auf einen riesigen Tisch gestellt hat: Der Künstler hat sie in den Militärfarben von 9 Ländern des Nahen Ostens bemalt, die an kriegerischen Akten in der Region beteiligt waren – von Ägypten über Israel bis zur Türkei. Was auf den ersten Blick wie eine vollkommen abstrakte Skulptur von strenger Serialität wirkt, entpuppt sich beim genaueren Hinsehen als aufschlussreiche Aussage über die Kräfteverhältnisse in einer explosiven Region.
Ähnlich sukzessiv entfaltet sich die politische Brisanz des Werks des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Der hat zwei Münzen unter einen Glassturz auf ein mit schwarzem Samt bezogenes Podest gelegt. Mit dem 2-Euro und ein 1-Lira-Stück, die exakt die gleiche Größe und das gleiche Gewicht haben, lassen sich in Deutschland ohne Probleme Fahrkarten-Automaten überlisten. Die Ähnlichkeit der beiden Geldstücke wirft die Frage auf, wo denn die Unterscheide zwischen zwei Nationen noch liegen könnten, die darüber streiten, wer zu Europa gehören darf und wer nicht.
Öguts Arbeit verdeutlicht zugleich aber auch das große Problem dieser Biennale. Denn sie ist von dem Vorbild einer Arbeit von Gonzales-Torres aus dem Jahr 1991 inspiriert. Damals hatte der Kubaner zwei exakt gleich aussehende und synchron schlagende Uhren „Perfect Lovers“ genannt. Diesen Titel trägt auch Ögüts Skulptur, ein ironischer Bezug auf die deutsch-türkischen Auseinandersetzungen um die doppelte Staatsbürgerschaften oder die Einwanderungspolitik.
Nicht nur, dass hier die Kunst über den Gonzales-Torres-Leisten geschlagen wird, so wie Hoffmann und Pedrosa hauptsächlich Arbeiten ausstellen, die sich unter dieses formale Vorbild subsumieren lassen: Von den kunstvollen Porzellanvasen, in die die Künstler des südafrikanischen Ardmore Ceramic-Studio ihre Warnung vor AIDS und die Mahnung zum Safer Sex transformiert haben. Über die 700 golden glänzenden Patronenhülsen aus dem 1. Weltkrieg, die der belgische Künstler Kris Martin zu einem Denkmal der schrecklichen Schönheit des Krieges aufgehäuft hat. Bis zu dem schwarzen Knäuel namens „Ceaseless Doodle“, zu dem das türkische Künstlerpaar Özlem Günyöl und Mustafa Kunt die zuvor auf weißes Papier gescannten Umrisse aller Länder der Welt im Computer verknotet hat.
Erstaunlich, wie viele Beispiele formal inspirierter Polit-Kunst die Kuratoren zusammen getragen haben. Noch dazu solche, die mehrheitlich nunmal nicht aus Europa, sondern aus Lateinamerika und dem Nahen Osten kommen. Nichts auch gegen den Versuch, dem Wildwuchs politischer Kunst ohne ästhetische Ambitionen, der sich in den letzten Jahren ausgebreitet hat, mit dem Appell zur Form zu begegnen.
In der Massierung, wie sie in Istanbul geboten wird, bekommt die Biennale am Ende aber doch einen Hauch von Scholastik. Und so wie sie hier in die formalistische Zwangsjacke gesteckt wird, wird auch ein vor 15 Jahren verstorbener Mann zum Übervater der kritischen Kunst von heute stilisiert, der von sich selbst stets behauptet hatte: „Ich bin keine Stimme der Autorität“.
Dass Hoffmann und Pedrosa dann auch noch mit Martha Roslers berühmtem Zyklus „Bringing the war home“ gegen den Vietnam-Krieg aus den sechziger Jahren aufwarten, dass sie Tina Modottis Fotografien „Frauen mit Flagge“ und „Sombrero mit Hammer und Sichel“ vom Ende der zwanziger Jahre oder die „AIDS-Time-Line“ der New Yorker Group Material von 1989 noch einmal ausbreiten, all das unterstreicht den penetranten Eindruck einer Unterrichtseinheit, die den interpretativen Freiraum, den sie dem Betrachter zurückerobern wollen, strikt zuwiderläuft. Von einer Biennale kann man aber erwarten, dass sie ihr Thema beherzter ausreizt und einen wirklich provokanten Wurf wagt. Dass sie sich nicht hinter historischen Vorbildern versteckt. Und nicht ins Museale zurück fällt – formal und inhaltlich.
Die Übertragung ins Metaphorische und die Lust am Formalen haben durchaus ihren distanzierenden Reiz. Etwa wenn der palästinensische Fotograf Taysir Batniji die Wachtürme, die die Israelis am Rande der von ihnen besetzten Gebiete aufgestellt haben, in der typologisierenden Art aufnimmt, wie sie einst das Düsseldorfer Fotografenehepaar Bernd und Hilla Becher vorexerzierte. Nur die Ölbilder, auf denen das rumänisch-schweizerische Künstlerpaar Mona Vatamanu & Florin Tudor die Szenen der „Arabellion“ – von den Kämpfen auf dem Kairoer Tahrir-Platz bis zur Flucht nach Lampedusa – festgehalten haben, sind eine von wenigen Ausnahmen von dieser Regel.
Mitunter passen die Arbeiten aber auch überhaupt nicht zu dem Anspruch der Kuratoren, Kunst auszustellen, die „formally innovative and politically outspoken“ daherkommt. Die Holzschnitte, mit denen die amerikanisch-mexikanische Künstlerin Elizabeth Catlett das Leben amerikanischer Landarbeiter porträtiert und die Plakate der ’68-er-Bewegung in Lateinamerika, die der mexikanische Künstler Cruzvillegas nachmalt, erinnern eben doch sehr an die sozialrealistische Tradition westeuropäischer Prägung.
Davon einmal abgesehen: So formal ausgeklügelt die meisten Künstler also aktuelle politische Konflikte verarbeiten, so sehr sie den plakativen Bezug meiden, wirkte die diesjährige Biennale wie die explizite Absage an das 3-köpfige Frauenkollektiv aus Zagreb, das unter dem Brecht-Motto: „What keeps Mankind alive“ die 11. Istanbul-Biennale vor zwei Jahren in das schrille, marktschreierische Manifest eines postkommunistischen Kommunismus verwandelt hatte. Hoffmann und Pedrosa geht es dennoch um einen politischen Anspruch. Auch wenn sich der eher ideologiekritisch äußert.
Die Ameisen, die der bolivianisch-niederländische Künstler Milena Bonilla dabei beobachtet, wie sie aus den Spalten des zerborstenen Grabsteins der letzten Ruhestätte von Karl Marx auf dem Londoner Friedhof Highgate kriechen, sind zwar eine demonstrative Übung in Ikonoklasmus. Ebenso wie die Frottage, die er von dem Grabstein mit einem schwarzen Bleistift gemacht hat. Zusammen wirkt die Arbeit wie eine Metapher für die ideologischen Spekulationen über ein (Über-)Image. „Tauber Stein“ hat Bonilla seine Arbeit aus dem Jahr 2009 etwas überdeutlich genannt. Die Botschaft versteht man aber auch Ohne Titel.
Text für Getidan: Ingo Arend
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