Die großartige Schau „Gesichter der Renaissance“ feiert die Entdeckung des Individuums in der Renaissance, befestigt aber einen überholten Mythos
Das Ergebnis stand schon vorher fest. „Berlins Superschau“, „Sensation des Jahres“, so oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen in der örtlichen Presse. Eine große deutsche Boulevardzeitung erklärte ihren Lesern am Tag der Eröffnung in ganz großen Lettern die „wichtigste Schau des Jahres“. Und Michael Eissenhauer, der oberste Chef der Berliner Museen, attestierte der Schau vorab sicherheitshalber schon mal „sensationelle Leihwerke“, ein „einzigartiges Niveau“ und beschwörte den „sensationellen Erfolg“, der ihr beschieden sein werde – vor der Eröffnung versteht sich.
„Gesichter der Renaissance“, die Großschau im Berliner Bodemuseum trägt alle Kennzeichen von Eventisierung und Spektakel, die die deutsche Museumslandschaft seit Jahren wie ein Taifun umpflügt: Fahnen vor dem Bodemuseum, Großplakate an jeder Straßenecke, im Museum auf der Museumsinsel bot der Supermarkt des Event-Merchandising vom Kurzreisen-Paket, über den digitalen Vorverkauf bis zu Giveaway-Plastiktüten und Kugelschreibern, alles was das Herz des Kulturtouristen begehrt.
Digitale Junkies, die auch tagsüber nicht auf die Renaissance verzichten möchten, können sich eine Renaissance-App herunterladen. Als der sonst eher bedächtig formulierende Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) dann auch noch am Eröffnungsabend hingerissen von den „schönsten Italienern“ sprach, war die gedankliche Verbindung zu zwei umstrittenen Blockbustern der Jahre 2004 und 2007 schließlich perfekt: Würde in Berlin nach „Das MoMA in Berlin“ und „Die schönsten Franzosen kommen“ der Serie dritter Teil eröffnet werden?
Das Aufgebot an Superlativen und der Hilfstruppen des Kommerz wäre nicht nötig gewesen. Denn die Qualität der hier zur Schau gestellten Werke spricht eine so eigene Sprache, dass sie jedes Marketing-Sprech zum Schweigen bringt. Im Gegensatz zu den verflossenen Groß-Schauen mit ihrem wahlweise wahllos oder ideologisch zusammengestellten Bestand steckte hinter den „Gesichtern der Renaissance“ eine plausible kuratorische These. So dass sich der Aufwand lohnte, 50 Leihgeber und Museen zu bewegen, mehr als 170 Werke zu einem wissenschaftlich fundierten Abgleich zu versammeln. Als bloßes Zwischenlager für Kunstwerke, die wegen der Renovierung ihrer Haupthäuser eine temporäre Bleibe suchten, war die Schau also nicht geplant. Eine so großartige, konzentrierte Schau dürfte so schnell nicht wieder zustande kommen.
FOCUS AUF DAS PORTRÄT
Veristische Bilder wie dieses sollten trotzdem nicht dazu verleiten, die großartigen Italiener, wie sie sich uns in den Gemälden, Zeichnungen, Münzen und Skulpturen zeigen, für den Vorschein irgendeines Realismus zeitgenössischer Prägung zu halten. Sei es den der modernen Fotografie oder den des Online-Portals Facebook, dem Podium, auf dem die etwas in Vergessenheit geratene Gattung des Porträts zu einer neuen, digitalen Blüte erwacht ist. Oder diese Bilder gar als Beispiele einer unverstellten Natürlichkeit zu nehmen. Auch wenn in den Bestell-Urkunden der damaligen Zeit oder dem Briefwechsel zwischen Künstler und Auftraggeber häufig der Zusatz zu finden ist, die Bildnisse seien „nach dem Leben gefertigt“ oder sollten es zumindest sein.
Die Berliner Zeitung stammelte zu Beginn der Schau lokalpatriotisch überwältigt von der Ära, „als die Kunst zum Leben fand“. Nichts kurzschlüssiger als das. Denn in der Renaissance-Kunst waren immer Inszenierungs-Strategien im Spiel. Ging es bei den Männern um den sozialen Status oder die Positionierung im Machtgefüge der oberitalienischen Republiken, spielten bei den zahlreichen Frauenporträts soziale Konventionen eine Rolle: Die Zurschaustellung von (oft geradezu überirdischer) Schönheit oder von Tugendhaftigkeit. Von der kollektiven Erinnerung – memoria – an die berühmten Männer der Gemeinwesen ganz zu schweigen.
An der Büste des florentinischen Bürgers Filippo Strozzis, die der Bildhauer Benedetto Maiano 1475 schuf, kann man zwar den Leberfleck neben der Nase und die Tränensäcke unter den Augen des vermögenden Patriziers sehen. Mit der seines Kollegen Mino da Fiesole wurde dessen Onkel Niccolò di Leonardo Strozzi als der Fettwanst herausgearbeitet, der er tatsächlich war. Dennoch zielten beide Bilder darauf ab, den Männern ihren Platz in der Gesellschaft zurückzugeben beziehungsweise ihn zu sichern.
Die Familie Strozzi war aus Florenz verbannt worden. Für Filippo Strozzi galt es, deren Ehre wieder herzustellen. Das Bildnis, so lebensecht es war, sollte seinen sozialen Status ikonologisch befestigen. Genauso wie das überaus realistische Porträt des venetianischen Dogen Leonardo Loredan, das Giovanni Bellini in den Jahren 1501-1504 malte, dazu diente, die sakrale Erhabenheit des höchsten Amtes der Lagunenrepublik in Szene zu setzen – vor irgendeiner individuellen Würdigung seines Trägers.
IDEALISIERUNG UND NATURALISMUS
Von den rätselhaft niedergeschlagenen Augen Giuliano de Medicis in dem Porträt Sandro Botticellis bis zu der schmeichelhaften Erscheinung, die Gian Cristoforo Romano seinem Medaillenbild der Isabella d’Este, der legendären Herzogin von Mantua 1498 gab – überall ist die Kunst der italienischen Renaissance ein Amalgam aus Idealisierung und Naturalismus. Und kann für den Begriff des freiheitlichen Individuums von heute, auf den FDP-Generalsekretär Christian Lindner gleich nach Eröffnung der Schau wählerwerbewirksam hinwies, nur äußert mühsam instrumentalisiert werden. So stark wie sich die sozialen Konditionen, in denen alle porträtierten Personen standen, sich in ihre Bildnisse einschrieben. Zumal die Herausbildung des Individuums, wie sie sich zu dieser Zeit vollzog, überdies noch ein Elitenphänomen war. Wenn auch einer feinsinnigen und gebildeten Elite.
Verbindungen zur Gegenwart lassen sich auf einer anderen Ebene ziehen. So belegt Sandro Botticellis Bildnis der Simonetta Vespucci aus dem Jahre 1425 eine Frau von unverwechselbarer Individualität. Die mit ihrem blassen Teint, dem langen Hals, den sorgsam gelegten Locken und der hohen Stirn vor allem dem kollektiven Frauenideal der damaligen Zeit genügte. Auch der Gleichmut im Ausdruck und die beherrschte Silhouette zeigen, dass das Bildnis auch im Banne des Ideals der ewigen, idealen Schönheit steht, wie sie der Renaissance-Dichter Petrarca formulierte.
Sie ist aber auch alles andere als eine Übung in den Gebot des „ritratto dal naturale“ – dem Ursprung des Wortes Porträt, das nichts anderes meint als die Abbildung des Äußeren. Das einst von den Nazis aus Polen geraubte Bild, das heute wieder im Museum Czatoryski hängt, ist ein Musterbeispiel für die Renaissance-Kunst als raffiniertes Zusammenspiel von Konstruktion und Allegorese. Individualismus im Kontext der Renaissance des 15. Jahrhunderts, so ließen sich die Beispiele zusammenfassen, bedeutete immer: Ikonisierung, Allegorisierung und Typisierung. Vielleicht sind sie deshalb der Bildkultur der Celebrities, der Mode und des Pop von heute so viel ähnlicher als den realistischen Strategien, für die sie derzeit wieder bemüht werden:
Dennoch muss man in den Wein der reinen, edlen Kunst, der da in Berlin und demnächst in New York kredenzt wird, einen Wermutstropfen schütten. Denn auch, wenn „Gesichter der Renaissance“ nicht der problematische Blockbuster geworden ist, den viele erwartet hatten, befestigt diese konzertierte ästhetische Aktion einen alten Mythos neu. Den vom Siegeszug der Moderne und der Erfindung des Individuums, der in Italien begann. Und seine Bibel in Jacob Burckhardts 1860 veröffentlichter Schrift „Die Kultur der Renaissance in Italien“ fand.
Das Werk des weltberühmten Schweizer Kunsthistorikers fungiert seither als eine Art Selbstverständigungsschrift des italophilen Bildungsbürgertums. Nicht umsonst bezog sich Keith Christiansen vom New Yorker Metropolitan-Museum ausdrücklich auf Burckhardt. Und nicht umsonst logiert die kostbare Schau auch in Berlins Bodemuseum, dessen zeitweiliger Direktor, Wilhelm von Bode, Freund und Herausgeber der Schriften Burckhardts war. Maßgeblich unter seiner Ägide setzte im 19. Jahrhundert in ganz Europa der Run des Kunstmarkts auf die vergessenen Kunstschätze der Antike ein.
Die neuere Geschichtswissenschaft hängt nicht mehr einem so engen Epochenbegriff wie Burckhardt an. Sondern sie definiert die Renaissance als „Ensemble von Veränderungen“, das schon im Mittelalter oder in der Gotik begann. Individualität, Rationalität und Humanität wurden schon in der Kunst und der Literatur des Mittelalters vorformuliert. Bereits im angeblich „dunklen“ Mittelalter fand ein typisches Medium der individuellen Selbstbespiegelung Verwendung: die Autobiografie.
Jüngere Historiker sehen die Renaissance auch nicht auf Europa beschränkt. In Japan bereitete der Künstler Hokusai im 18. Jahrhundert einer ästhetischen Renaissance den Boden. In seinen Holzdrucken und Zeichnungen verwendete er eine Vorform der Zentralperspektive. Im Nordafrika des 14. Jahrhunderts wirkte der Historiker der arabischen Aufklärung, Ibn Chaldun. Ein allein auf Italien fokussierter Renaissance-Begriff birgt seine Tücken. Die Freude über die „Schönheit und die lebendige Erinnerung an längst entschwundene Gesichter“ aus einem kleinen Teil des Südens Europas, die die amerikanische Kunsthistorikerin Patricia Rubin in dem hervorragenden Katalog zur Ausstellung beschwor, läuft auch Gefahr, die „Überlegenheitsgefühle der westlichen Eliten zu rechtfertigen“, wie es einmal der britische Historiker Peter Burke mit kritischem Blick auf eine umjubelte Epoche bemerkte.
So gesehen käme die Ausstellung in Berlin gerade zur rechten Zeit. Überlegenheitsgefühle dürfte sie kaum auslösen. Aber zumindest dem durch die Schuldenkrise angeschlagenen (Selbst-)Bewußtsein des Alten Kontinents dürfte sie aufhelfen.
Text für Getidan: Ingo Arend
Bild oben: Davide Ghirlandaio (?) Brustbilder eines jungen Mannes und eines Knaben, um 1480 © Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Jörg P. Anders
Gesichter der Renaissance. Meisterwerke der italienischen Portrait-Kunst. Bode-Museum, Berlin. Noch bis zum 20.11.2011.
Vom 19.12.2011 bis 18.03. 2012 ist die Ausstellung noch im Metropolitan-Museum in New York zu sehen.
Katalog, herausgegeben von Keith Christiansen und Stefan Weppelmann, Hirmer-Verlag, München, 420 S., 29 Euro
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