Tristesse, Glamour, Sinnlichkeit und Inszenierung
Nan Goldin und Peter Lindbergh – zwei Ausstellungen in Berlin
„Ich fotografiere nur Menschen, die ich liebe.“ Das ist so ein echter Nan Goldin-Satz. Dieser Ton der Unbedingtheit, der Hingabe und der Obsession. Doch man nimmt es ihr ab, wenn man jetzt in der Berlinischen Galerie, Berlins Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, ihre Bilder aus den achtziger Jahren wieder sieht: Niko Utermöhlen von der „Tödlichen Doris“ mit seinem Freund Oli am Tresen im legendären Club Dschungel, Käthe Kruse nackt unter der Dusche in Nans Bad in Kreuzberg, ihre langjährige Geliebte Siobhan liegend in ihrer Badewanne. Diese Fotografien sind keine distanzierten soziologischen Milieu-Studien. Es sind auch immer fotografische Liebeserklärungen.
Berlin war für ein paar entscheidende Jahre die Wahlheimat der 1953 in Washington geborenen Fotografin. Seit 1982 in der Stadt häufig zu Besuch, hatte sie im Kino Arsenal 1984 erstmals ihre Dia-Show „Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ gezeigt, in der sie das exzessive Leben erst in der Bostoner, dann in der New Yorker Subkultur der siebziger Jahre verarbeitet hatte: Künstler, Fixer, Drag-Queens, Transvestiten und Homosexuelle. Auch in der Berliner Boheme der Vorwendezeit fand sie schnell Freunde und blieb. Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) 1991 ermöglichte ihr, diese fotografische Erkundung fortzusetzen. Zur Eröffnung ihrer neuen Ausstellung nannte die Künstlerin, die heute in Paris lebt, diese Zeit sichtlich bewegt „the best years of my life“.
Dokumentarfotografin, Schnappschuss-Ästhetik und Porträtistin einer Generation – diese Vokabeln heften wie Kletten an Goldin. Sie selbst hat diesen Mythos genährt. „My work does come from the snapshot“ erklärte sie 1996 im Interview mit Walter Keller und David Armstrong und sprach von der Fotografie als dem „Medium ihres Lebens“. Und man glaubt diese Kennzeichnung sofort, wenn man ihr Selbstporträt „Nan being battered“ aus dem Jahr 1984 sieht, auf dem sie den Betrachter aus den blutunterlaufenen Augen anschaut, die sie nach den Misshandlungen ihres damaligen Freundes bekommen hatte. Doch das Ungestellte und „kompromisslos Ehrliche“, das damit meist unterstellt wird, birgt nicht nur Probleme, weil es dem Betrachter in seiner scheinbar intensiven Zugewandtheit und Emotionalität einen Vorwand für den weit verbreiteten (letztlich aber antikünstlerischen) Wunsch liefert, die Grenzen zwischen Kunst und Leben seien am Ende niederzureißen. Es verfehlt auch haarscharf den Kern ihrer Kunst.
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„Ich möchte an das herankommen, was wirklich da ist.“
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Gewiss scheint man mit Goldins Bildern zum direkten Zeugen von Sexualität, Begierde, Gewalt, Krankheit, Trauer und Tod dieser kreativen Halbwelt zu werden, die sie stets als ihre „Familie“ deklarierte. Und ganz falsch ist die Kennzeichnung als „vollkommen neuartige Form subjektiven Ausdrucks“ nicht, sofern sich das für Fotografie überhaupt sagen lässt. Doch abgesehen von der politischen Sprengkraft dieser Bilder jenseits der traditionellen sexuellen Rollenverteilung – nicht nur die mit Blitzlicht beleuchteten Innenaufnahmen in Clubs, Bordellen und Nachtbars, bei denen sie eine bestimmte Stimmung erschaffen konnte, zeugen von ihrem bewusst konzeptuellen Vorgehen.
Ihr berühmtes „Selbstporträt in meinem blauen Bad“ aus dem Jahr 1991, auf dem sich die schöne Rothaarige durch den Klappspiegel eines Toilettenschranks skeptisch selbst beobachtet, zeugt von dem Selbstbewusstsein dieser Frau, ist aber auch ein Muster an Reflektiertheit. Mögen die Museen der Welt auch noch so oft lieb gewordene Goldin-Klischees wie ihr Zitat: „Bilder zu machen, ist für mich eine Art jemanden zu berühren – eine Form von Zärtlichkeit“ nachdrucken. Viel eher fühlt man sich bei dem für Goldins Arbeit zentralen Utensil an Martin Bubers Dialog-Philosophie erinnert, der Idee, dass das „Ich“ sich immer nur in seinem Gegenüber, dem „Du“ erkennen kann. Nicht zufällig hieß ihre erste Ausstellung 1996 im New Yorker Whitney Museum „I’ll be your mirror“.
Mit dieser Mischung aus Empathie, Selbstbefragung und Selbstinszenierung ist sie ihrem Kollegen Peter Lindbergh näher als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der 1944 geborene Künstler, von dem jetzt eine Retrospektive im Fotografieforum C/O zu sehen ist, wurde durch seine Modefotos weltberühmt. Ein Genre, von dem sich auch die junge Goldin, wie sie selbst im Rückblick auf ihre Kindheit sagte, inspiriert fühlte. Auf einem Bild „Nan in velvet gown“, das ihr Freund David 1971 von ihr schoss, posiert sie vor Modefotografien: Tristesse und Glamour sind in ihren Bildern nämlich zwei Seiten derselben Medaille. Auch Lindbergh setzt auf seine Art auf emotionale Nähe zu seinen Porträtierten. Seinem klischeegefährdeten Vorsatz: „Ich möchte an das herankommen, was wirklich da ist“ ist er dann sogar verblüffend nahe gekommen. Sharon Stone, Kate Moss oder Milla Jovovich sind bei ihm immer die Stars, zugleich eignet ihren Porträts etwas Unprätentiöses, Privates, das jede Attitüde dieses Genres konterkariert.
Das Sexuelle, Körperliche, das einen bei Goldin förmlich anspringt, ist bei Lindbergh, trotz einiger gereckter Frauenbeine, deutlich vermittelter. Die größtmögliche Erfüllung fand sein lebenslanger Balanceakt zwischen Sinnlichkeit und Inszenierung in dem 2003 entstandenen Porträt der französischen Schauspielerin Jeanne Moreau. Die Aufnahme mit den geöffneten Lippen, auf der aber auch die Narbe einer Schönheitsoperation zu sehen ist, zeigt die cineastische Ikone und die verletzliche, alternde Frau. In diesem atemberaubenden Jahrhundertbild ist Lindbergh Goldin am nächsten.
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Heute durchweht die Stadt eher
der coole Wind der Kreativwirtschaft.
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Trotzdem darf man auch seine Arbeit nicht mit irgendeinem Realismus verwechseln. Selbst wenn eine Serie On Street heißt. Und wenn Lindbergh selbst einen „sense of reality coming through“ beschwört. Wer genau hinschaut, entdeckt in den New Yorker Straßenszenen immer wieder diese schmalen Frauenfiguren, die sich ihrer Umgebung scheinbar vollkommen anverwandeln – wenn da nicht dieser entrückte Blick, die minimalistische Garderobe und die steife Pose wäre: Ein trügerischer Verismus daher, der aber vor allem dazu dient, die schmale Grenze zwischen Realität und Inszenierung auf einen kaum noch erkennbaren Rest zu minimieren.
Mit Nan Goldin blickt das neue Berlin auf eine versunkene Zeit zurück: Auf die ummauerte Insel Westberlin zwischen den Blöcken, auf der ein kleiner Stamm namens Subkultur hauste: hochpolitisch, hocherotisch, mystisch aufgeladen. Nicht, dass man diese verwunschene Zeit, wo die Drinks in den Gläsern der verplüschten Nachtclubs noch türkisfarben schimmerten, unbedingt zurückhaben will. Doch wer Goldins Berlin Works, 53 von 80 Bildern wurden noch nie gezeigt, Revue passieren lässt, ahnt, was sich verändert hat.
Weniger attraktiv für die schrägen Vögel aus aller Welt, denen auch ihre immerwährende Liebe galt, ist die Stadt nicht geworden. Und das Transitorische, Flüchtige, Unfertige, das Lindbergh in seinen Berlin-Bildern aus den Jahren nach dem Mauerfall im Club Tresor, am Brandenburger Tor oder dem Alexanderplatz eingefangen hat, hat sich nun seinerseits zu einem neuen Mythos ausgewachsen. Heute durchweht die Stadt, bis auf ein paar Kreuzberger und Neuköllner Biotope, aber doch eher der coole Wind der Kreativwirtschaft. Wer der fotografische Chronist dieser Zeit geworden ist, muss sich ernst noch zeigen.
Text: Ingo Arend
Nan Goldin – Berlin Work
Fotografien 1984-2009
Berlinische Galerie, noch bis zum 28. März 2011. (Das Booklet zur Ausstellung ist gratis.)
Nan Goldins Fotografien sind Bilder ihres Lebens. Sie zeigen in unerschöpflicher Fülle die „Familie“ Goldins – ihre Freunde, Bekannten, Liebhaber. Seit sie mit 14 Jahren ihr Elternhaus verließ, lebte sie mit einer Subkulturszene von Drag Queens, Transvestiten und Homosexuellen zuerst in Boston und ab 1978 in New York. 1991 kam sie durch ein DAAD-Stipendium nach Berlin und blieb hier mit kurzen Unterbrechungen bis 1994. Seither ist sie immer wieder in die Stadt zurückgekehrt.
In der Ausstellung NAN GOLDIN – BERLIN WORK des Landesmuseums für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur werden 80 ausgewählte Fotoarbeiten, die zwischen 1984 und 2009 in Berlin entstanden sind, und dazu bisher unveröffentlichtes Archivmaterial aus dem Besitz der Künstlerin präsentiert. Zwei Bildtableaus, die sogenannten „grids“, leisten als narrative Sequenzen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Goldins Berlin-Bild, dem Ort ihrer Kreation und Transition.
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C/O Berlin, noch bis zum 9. Januar 2011. (Katalog, Schirmer Mosel, 29, 80 EUR)
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